Ein Schiff der Hoffnung aus Hamburg

Ausgabe 347

hamburg
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Dokumentation: Vortrag von Yavuz Kudret Gürsoy beim Fastenbrechen der Jusos Hamburg.

Meine verehrten Damen und Herren, liebe Funktionäre, liebe Freunde,
der Friede sei mit Ihnen allen!

Ich möchte mich für die Einladung sehr herzlich bedanken – im Namen des Bündnisses der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland und im Namen meines Vorstands, des Netzwerks muslimischer Akademiker.

Liebe Freunde, lassen Sie mich meine Ausführungen mit einem Gleichnis des gesegneten Propheten beginnen, das mit dem literarischen Symbol des Schiffes an unsere Hansestadt anknüpft.

„Das Gleichnis dessen, der Grenzen beachtet, und dessen, der diese überschreitet, ist wie Reisende auf einem Schiff, die per Los zugeordnet werden, wer auf das Oberdeck soll und wer unter das Deck. Jene unter Deck mussten immer über das Oberdeck gehen, um (ihr Bedürfnis zu stillen:) Wasser zu holen. So kamen sie nach einer Weile auf einen Gedanken und schlugen den Leuten vom Oberdeck vor, ein Loch in den Schiffsboden zu bohren, um so Wasser zu schöpfen, […]“

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Der gesegnete Prophet führt aus: „Wenn die Bewohner des Oberdecks die anderen ihren Plan durchführen ließen, würden sie alle gemeinsam untergehen; aber wenn sie diese bei der Hand nähmen und sie davon abhielten, würden sie alle gerettet werden.“ (Al-Bukhari)

Es geht mir heute nicht um eine theologische Darstellung, vielmehr um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich hier ableiten lassen. Gelehrte deuten die Reisenden auf dem Oberdeck u.a. als Führungspersonen, Institutionen, ja vielleicht die Exekutive; die Menschen unter Deck als die Bevölkerung, die Basis.

Es ist zweifellos lebenswichtig, dass das Oberdeck die Belange des Unterdecks versteht, sie im Auge behält und in einer gesunden Beziehung zu ihnen Regeln setzt. Es ist wichtig, dass das Oberdeck die Menschen im Unterdeck nicht gegeneinander ausspielt, dass es Frieden und Harmonie stiftet, dass es ihre Interessen im Auge behält. Das Oberdeck darf nicht in Wortgefechten ausufern, die das Schiff ins Wanken bringen oder Gefährden könnten. Wenn das Schiff sinkt, sinken alle, ohne Ausnahme.

Sitzen nicht wir alle in so einem Schiff? Wenn es Deutschland gut geht, geht es uns allen gut. Geht es der Bevölkerung gut, geht es dem ganzen Schiff gut, den Passagieren auf dem Oberdeck auch. Dafür stehen wir hinter unserer Demokratie, die als Staatsform die Gleichheit aller vor dem Gesetz garantiert.

Die Bürger unserer schönen Stadt sind Mütter, Kinder, Juden, Atheistinnen, Bauarbeiter, Rechtsanwältinnen, Gärtner usw. und gehören vor allem dem unteren Deck an. Sie bilden die Basis. Doch in den letzten Monaten wurde die Basis kräftig durchgeschüttelt. Heftige Stürme setzten dem Schiff zu.

Chauvinistische Rassisten trafen sich in Potsdam und beanspruchten das Schiff für sich, um andere von Bord zu werfen. Das Unterdeck gab sich tapfer, animierte das ganze Schiff zu großen Demonstrationen. Das Oberdeck freute sich und verlor doch den ganzheitlichen Blick: Der Bericht des Innenministeriums zur Muslimfeindlichkeit wurde nach minimaler Wirkung zurückgezogen. Erst kürzlich gab es wieder einen Brandanschlag in Solingen, bei dem Menschen muslimischen Glaubens starben. Die Gemüter sind beunruhigt. 134 islamfeindliche Straftaten allein im zweiten Quartal des vergangenen Jahres. Zu meinem Bedauern musste ich nach all dem feststellen, dass die Genossinnen und Genossen die Muslimfeindlichkeit in ihrem aktuellen Europawahlprogramm ausgeklammert haben.

Gleichzeitig führte die monoperspektivische Berichterstattung in Deutschland zu einer Gemütsunterdrückung im Unterdeck. Ein Teil des Unterdecks wandte sich gegen die Gewaltspirale im Nahen Osten und wollte ihrer Verzweiflung durch legale Meinungskundgebung Ausdruck verleihen. Die politischen Verhältnisse wurden jedoch entschlossen gegen die Menschenwürde aufgewogen. Regierungsmitglieder äußerten sich paternalistisch gegenüber der muslimischen Gemeinschaft. Der Geist war verwirrt, der Mund verschlossen, der Körper erstarrt, aber die Augen sahen weiter das Grauen in Gaza.

„Wer viel einst zu verkünden hat
Schweigt viel in sich hinein.
Wer einst den Blitz zu zünden hat,
Muss lange – Wolke sein.“, wie Nietzsche weise dichtet.

Und siehe da, das Narrativ ändert sich… Es öffnen sich Fenster der Hoffnung: Politische und religiöse Größen wie Vizepräsidentin des Bundestages Aydan Özoguz, Bischöfin Kirsten Vehrs, der jüdische Vorsitzende Sammy Jossifoff und der BIG-Vorsitzende Mehmet Karaoglu konstatierten vor wenigen Tagen im Chor, dass jedes Opfer eines zu viel sei und Leid nicht gegen anderes Leid aufgewogen werden dürfe.

Das Schiff fährt also weiter, so viel ist sicher. Die Muslime in Deutschland werden die vergangenen Monate sicher nicht vergessen. Sie stellen eine Zäsur dar.

Muslimen ist es nicht gestattet, die Hoffnung aufzugeben… Sie wissen nämlich, dass Gott die Instanz ist, die unermüdlich hilft. Den Zustand in seiner Gänze anzunehmen (riza) und dennoch nach dem Guten zu streben (emr-i bilmaruf) ist das muhammedische Lebensverständnis. Es werden neue Allianzen geschmiedet, neue Wege gesucht und noch mehr soziales Engagement gezeigt, damit es uns allen Hamburgern in der Zukunft besser geht.

Gerne möchte ich noch einen weiteren Hoffnungsträger vorstellen: Das Netzwerk muslimischer Akademiker. Das Netzwerk fährt zweigleisig. Zum einen setzen wir auf die ideelle Förderung von Akademikerinnen und Akademikern, mit dem Ziel, das kritische und nachhaltige Denken in muslimischen Kreisen zu stärken und die muslimische Sicht auf gesellschaftliche Fragen in muslimische wie nichtmuslimische Denkkreise und Institutionen hineinzutragen.

Zum anderen bündeln wir die Kräfte in Berufsgruppen. Im letzten Jahr sind sechs Stammtische entstanden. Hier fördern wir die Vernetzung von Akademikerinnen und Akademikern sowie Unternehmerinnen und Unternehmern muslimischen Glaubens und ermutigen sie, die Gesellschaft mitzugestalten. Zuletzt trafen sie sich zu „Meet und Muhabbet“ und entwickelten Projekte zur Gestaltung der Gemeindearbeit. Die Stammtische bieten intern wie extern Fortbildungen und Gesprächskreise an.

So ermutigen sich unsere Mitglieder gegenseitig, Stadt und Gesellschaft stärker im Blick zu behalten. Wir erreichen derzeit über 500 Hochschulabsolventinnen und -absolventen in und um Hamburg.

Ich möchte meine Ausführungen mit dem ehrenwerten Dichter und Denker des Organischen, des Ganzheitlichen abschließen. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt in einem Gespräch mit Eckermann, einem engen Vertrauten, wie ein gewaltsames Eingreifen des Unterdecks seinen Sinn verliert, wenn das Oberdeck wachsam und aufmerksam ist.

„Auch ich war vollkommen überzeugt, dass irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, sodass sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.“

Liebe Freunde, lassen wir uns von niemandem ein Loch in den Schiffsboden bohren.

Heute ist der 28. Ramadan. Wir Muslime verabschieden uns vom Monat der Läuterung der Herzen, der Gebete und der weit geöffneten Pforten Gottes. Sie als Jusos haben uns hier in diesen schönen Räumlichkeiten des Bucerius Law Schools zu einem IftarMahl versammelt. Für uns Muslime steht der Iftar für die Verbindung von Tüchtigkeit und Spiritualität. Es ist die höchste Form der Dankbarkeit. Und Sie teilen unsere Dankbarkeit, das ist eine besondere Geste…

In diesem Sinne bedanke ich mich nochmals für die Einladung und freue mich auf die Gespräche mit Ihnen…