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Das Bewusstsein der Bedürftigkeit

Ausgabe 367

Bedürftigkeit
Foto: Dubai Shopping Festival

Von der Bedürftigkeit des Menschen: Wir müssen unsere existenzielle Abhängigkeit vom Schöpfer anerkennen.

(iz). Das wirtschaftliche System, das unsere heutige Epoche maßgeblich geprägt hat, ist der Kapitalismus. In unserer Zeit hat er gegenüber anderen ökonomischen Systemen eine nahezu uneingeschränkte Vorherrschaft erlangt. Von Dr. Muhammed Mustafa Yüksel

Doch er ist weit mehr als nur ein Wirtschaftssystem. Er hat den Gesellschaften und Kulturen der Welt auch ein eigenes Menschenbild und eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit aufgeprägt. So ist die Welt, die unser Herr dem Menschen als anvertrautes Gut überlassen hat, mitsamt all ihren Ressourcen einer grenzenlosen und verantwortungslosen Ausbeutung preisgegeben worden.

Die Stellung des Menschen ist dabei auf eine rein sozioökonomische Kategorie reduziert worden. Innerhalb dieses geschaffenen Gefüges werden Menschen unabhängig von Religion, Sprache oder Hautfarbe in Reiche und Arme eingeteilt. In seinem Werk „Das Kapital“, unterzieht Karl Marx das bestehende System einer kritischen Analyse und bezeichnet diese Einteilung als die von Unterdrückern und Unterdrückten.

Der edle Qur’an wiederum weist auf dieselbe Wirklichkeit mit den Begriffen „mustarniler“ und „mustazaflar“ hin. Mustarni zu sein bedeutet im Allgemeinen, sich selbst als reich, mächtig, wissend oder von hohem Rang zu betrachten und dabei in Überheblichkeit zu verfallen. Mustazaf hingegen bezeichnet jene, die innerhalb der Gesellschaft geschwächt wurden, also die Unterdrückten.

In einer Welt, in der die Begriffe reich und arm eine so zentrale Rolle spielen, kommt einer bestimmten Weisheit des zeitlosen Vorbilds der Muslime eine besondere Bedeutung zu. Unser Prophet Muhammad (s) sagte: „Faqr ist mein Stolz.“

prophet medina grabMedina Al-Munawwara: Besucher an der letzten Ruhestätte des Gesandten Allahs. (Foto: Muhammad Afzan, Shutterstock)

Diese außergewöhnliche Aussage lässt sich so erläutern, dass die eigene Bedürftigkeit selbst zum Grund des Stolzes wird. In einer Epoche wie der unsrigen, in der Reichtum beinahe heiliggesprochen und zum eigentlichen Lebensziel erhoben wird, trifft uns dieser Satz wie eine deutliche Mahnung. Er ist mehr als eine bloße Aussage. Er verweist auf ein tief gehendes und besonderes Verständnis des Menschseins.

Die existentielle Bedeutung dieses Ausspruchs liegt darin, dass der Mensch seine grundsätzliche Bedürftigkeit gegenüber dem Schöpfer eingesteht. Er gelangt zu der Erkenntnis, dass der einzige, der keines Dinges bedarf, Allah, also das Göttliche, ist.

Auf Erden sind bis heute unzählige Menschen erschienen und wieder gegangen, denen man Stärke und Macht zugeschrieben hat. Und bis zum Jüngsten Tag werden weiterhin solche Menschen kommen.

Doch selbst der mächtigste Mensch ist für den Fortbestand seines Daseins auf jeden einzelnen Atemzug angewiesen. Während er sogar den Atem, den er nur kraft des göttlichen Ratschlusses empfängt, dringend benötigt, erweist sich die Größe, die er seinem eigenen Selbst zuschreibt, als die größte gedankenlose Verblendung des Menschen.

Wenden wir uns der sozialen Dimension dieser Frage zu, so zeigt sich, dass unser Herr den Menschen nicht nur in einer grundsätzlichen Abhängigkeit von sich selbst erschaffen hat. Ebenso offenkundig ist die Bedürftigkeit des Menschen gegenüber dem Menschen.

Zivilgesellschaft

Foto: SKIMP Art, Adobe Stock

Mehr noch, das Zusammenleben der Menschen sowie der Fortschritt und die Entwicklung ihrer Beziehungen gründen auf gegenseitiger Abhängigkeit. Durch technische Entwicklungen haben Menschen, insbesondere in den Städten, zunehmend die Möglichkeit erlangt, ihr Leben scheinbar unabhängig von anderen zu führen. Dies hat den Individualismus gestärkt.

Zu diesem Thema ließen sich umfangreiche Analysen anstellen. Doch soll hier folgende Feststellung genügen. Die wichtigste Ursache jener Einsamkeit, die den modernen Menschen in Melancholie und Depression führt, liegt in der irrigen Vorstellung, er habe seine Bedürftigkeit gegenüber dem Mitmenschen verloren. Möge Allah uns zu jenen zählen lassen, die sich ihrer Bedürftigkeit bewusst sind.

Dr. Muhammed Mustafa Yüksel lebt derzeit in Köln. Er arbeitete drei Jahre an der Goethe-Universität in Frankfurt als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seine Promotionsarbeit trägt den Titel „Zwei zeitgenössische liberale Abhandlungen über die politische Autorität Muhammads. Mehmed Seyyid Bey und ‘Ali ‘Abd ar-Raziq“. In dieser geht er der Frage nach, ob das Kalifat eine göttliche Institution oder ein menschliches Machtgebilde ist. Sie erscheint 2026 im Verlag Dr. Kovač, einem Fachverlag für wissenschaftliche Literatur.

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