Mevlana Rumi und sein Werk sind Teil der islamischen Lehre und keine substanzlose Esoterik.
(iz). In Europa kennt man Rumi vor allem als Dichter der Liebe, als sanftmütigen Mystiker, dessen Worte von Sehnsucht und leuchtendem Herzen sprechen. Seine Verse stehen auf Postkarten, in Kalendern und Bildbänden. Doch dieser Rumi, den Europa feiert, ist nur die sichtbare Oberfläche eines viel tiefsinnigeren Gelehrten.
Der Rumi, wie ihn Muslime kennen und wie er in Konya, seiner Wirkungsstätte, lebendig war, ist ein anderer. Wir lernen ihn unter anderem im Buch „Von Allem und vom Einen“ kennen. Dieses Buch besteht aus Scheikh Rumis Predigten und Annemarie Schimmel hat sie auf Deutsch zugänglich gemacht.
Rumi – ein traditioneller Gelehrter
Mevlana war ein Prediger, der auf der Kanzel stand, eine Gemeinde belehrte und ermahnte, ein muslimischer Gelehrter, der seine Zuhörer geistlich formte. Seine Worte waren nicht bloß Dekoration, sondern Teil eines religiösen Alltags und seiner lebendigen Beziehung zwischen Lehrer und Gemeinschaft.
Der Name „Rumi“ bedeutet Römer. Denn „Rum beldeleri“ wurden die Gebiete genannt, die von den Seldschuken frisch von Byzanz erobert wurden. Das waren die ehemals römischen Gebiete. Daher der Name „Rumi“.
Bevor er Dichter wurde, war er Lehrer und Prediger. Ein Großgelehrter nach hanifitischem Recht und der Glaubenslehre des Imam Maturidi. Das hat sich zeitlebens nicht geändert. Geändert hat sich lediglich, dass er seine Gefühle poetisch zu Wort gebracht hat.

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In der Moschee von Konya sprach er zu den Menschen, erklärte Qur’anverse, deutete prophetische Überlieferungen und verband sie mit den moralischen Herausforderungen des Lebens. Annemarie Schimmel macht diese oft übersehene Seite seines Lebens in ihrer Übersetzung und ihrem Vorwort sichtbar.
Seine Predigten sind in ihrem Kern klare und eindringliche Unterweisungen – und seine Gedichte sind deren ästhetische Facette. Allen Menschen, die im Qur‘an keine Liebe finden, sagt Scheikh Rumi: „Du hast das jungfräuliche Wort interpretiert; interpretiere dich selbst, nicht das Buch. Du interpretierst den Koran nach deiner Begierde; durch dich wird die erhabene Bedeutung erniedrigt und pervertiert.“ (Masnawi, Vers 1078f)
Weit entfernt von substanzlosen Kalendersprüchen
Diese Verse, die sich im Original reimen, sind weit entfernt von der sanften Poesie der oft zitierten Kalendersprüche. Sie zeigen das Profil eines Muslims, der den Islam verteidigt gegen alle Barbaren, die es wagen, herzlose Deutungen anzustellen.
Hier spricht jemand, der den Qur’an als Quelle von Verstand, Liebe und Moral begreift. Rumi ruft die Menschen dazu auf, ihr niederes Selbst zu erziehen. Manche würden heute Psyche sagen. Der Ton ist ernst, nicht dekorativ; er ist belehrend, nicht ästhetisierend.
Der europäische Blick blendet diese Seite oft aus, weil sie nicht in das säkularisierte Bild von „Spiritualität“ passt, das möglichst religionsfrei bleiben soll. Doch Rumis Predigten sind fest im Islam verankert. Sie kreisen um moralische Selbstprüfung, Demut, die Nähe zu Allah, den Erhabenen, und die Reinigung der Seele.
Das Werk im Dienste der Lehre
Rumis Gedichte und Predigten wirken häufig wie eine Deutung des Qur’an und der Aussagen des Propheten Muhammed, Allahs Segen und Frieden auf ihm. Sie wirken als moralische Anleitung, als Erinnerung an religiöse Pflichten.
Rumi mahnt alle Menschen: Muslime sowie Nichtmuslime. Insbesondere mahnt er Muslime, die zwar mit den Lippen den Islam bezeugen, aber Gottesdienste vernachlässigen und ihren Charakter nicht verschönern:
„Jemand sagte: Die Mongolen glauben auch an die Auferstehung und sagen, es werde ein Gericht geben. Er antwortete: Sie lügen. Weil sie sich mit den Muslimen zusammen tun möchten, sagen sie: »Wir wissen und glauben das auch.« […] Wenn sie nun wirklich an die Auferstehung glauben – wo ist Zeichen und Beweis dafür? Ihre Sünden und Unrecht und Übeltaten sind wie Schicht um Schicht von Schnee. Wenn die Sonne der Reue und der Umkehr kommt, Nachrichten aus dem Jenseits und Gottesfurcht, dann wird dieser Schneehaufen von Sünden ganz schmelzen, sowie die Sonne Schnee und Eis schmilzt. Wenn Schnee und Eis sagen: »Ich habe die Sonne gesehen und die Junisonne hat auf mich geschienen [d.h. ich habe den Islam erkannt und ihn auf mich wirken lassen]«, und es bleibt immer noch Schnee und Eis, würde kein vernünftiger Mensch das glauben. Es ist unmöglich, dass die Julisonne kommen und Schnee und Eis nicht schmelzen würden.“ („Von Allem und vom Einen“, von Annemarie Schimmel übersetzt)
Der Islam wirkt kultivierend. Wer das leugnet, dem stellt sich Rumi entgegen. An wem das als Muslim nicht sichtbar wird, den ermahnt Rumi. Seine Worte richten sich nicht bloß an ein poetisches Publikum. Rumi wendet sich an Menschen in und außerhalb der Moschee.
Er reicht seine seelische Hand den Menschen, die nach Orientierung suchen. Jede seiner Predigten und alle seine Gedichte tragen die Handschrift eines Gelehrten, der die islamischen Grundlagen mit Weisheit zu Wort bringt, auf gewandte Weise.
Annemarie Schimmel beweist, dass seine Dichtungen ohne seine Predigten nicht zu verstehen sind. Seine Gedichte sind nicht Weltflucht, sondern geistige Verdichtung dessen, was in den Predigten offen ausgesprochen wird: Die Predigt ist der Boden, die Dichtung ist die Blüte.

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Der Spiegel: Rumi in Europa, Goethe bei den Muslimen
Es ist falsch Rumi zu entislamisieren. Das tun areligiöse Europäer und auch bestimmte Gruppen von Muslimen. Beides ist verkehrt. Und mehr noch: Es zeigt sich auch eine bemerkenswerte Parallele zur Frage, wie manche Muslime Goethe lesen.
Dort geht es oft darum, ob Goethe ein Muslim gewesen sein könnte. Diese Frage ist nett gemeint, doch sie führt in die Irre. Sie reduziert Goethe auf eine identitäre Kategorie, statt ihn in seiner Ganzheit wahrzunehmen.
Genau dieselbe Mechanik wirkt in Europa, wenn gefragt wird: „Wie liberal ist Rumi?“ oder „Wie universal ist er?“ Oder subtiler: „Wie sehr passt Rumi in unser Verständnis von moderner, offener Spiritualität?“ Solche Fragen sagen mehr über die Bedürfnisse der Fragenden aus als über die Person, die sie zu verstehen versuchen.
Die muslimische Goethefrage und die europäische Rumifrage ähneln sich darin, dass sie große Persönlichkeiten durch eine vorgefertigte Schablone pressen wollen, statt ihnen als eigenständigen Persönlichkeiten zu begegnen.
Weder lässt sich Goethe bloß durch seine mögliche Nähe zum Islam verstehen, noch lässt sich Rumi durch seine mögliche Nähe zu Europa erfassen. Beides sind Ersatzfragen. Sie umgehen das Eigentliche. Beide Sichtweisen verhindern ein echtes Verständnis, weil sie die Menschen auf Aspekte reduzieren, die mit ihrer geistigen Leistung nur wenig zu tun haben.
Wenn Europäer und Muslime mit radikalen Tendenzen Rumi auf eine universale Liebesfigur reduzieren, verlieren sie den Prediger, den Theologen, den Muslim, dessen Worte manchmal streng und schneidend waren. Wenn ausgewogene Muslime Goethe auf die Frage seiner religiösen Zugehörigkeit reduzieren, verlieren sie den Staatsmann und Denker, der aus einer tiefen Bildungstradition heraus sprach und experimentierte.
In beiden Fällen entsteht ein Mythos, aber kein Mensch. Annemarie Schimmel führt allen Lesern vor, wie man über kulturelle Grenzen hinweg jemanden wirklich liest: Sie nimmt Rumi ernst, in seiner eigenen Sprache, seinem eigenen religiösen Kontext, seiner eigenen Symbolwelt. Dadurch wird er nicht enger, sondern weiter. Denn Tiefe verbindet, während zu große Vereinfachung verzerrt und entfremdet.
Rumi in seiner Ganzheit – und warum das verbindet
Rumis Ganzheit zeigt sich gerade in der Einheit seiner Rollen. Er ist Prediger und Dichter, Gelehrter und Liebender, Theologe und Erzieher. Seine Liebe ist keine sentimentale Geste, sondern der brennende Kern einer islamischen Disziplin. Seine Predigten zeigen, wie ernst er die innere Entwicklung seiner Zuhörer nahm
Sie handeln von Demut, von der Überwindung des Nafs Emmare, d.h. dem niederen Selbst, von der Nähe zu Allah und von der Verantwortung der Seele für ihr eigenes Wachstum. Dieser Rumi lässt sich nicht entkernen – der Islam ist sein Kern – ohne seine Kraft zu verlieren. Er fordert den Leser auf, sich selbst in Frage zu stellen, er lädt zur Selbstläuterung ein, nicht zur Selbstbestätigung.

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Ein solcher Rumi besitzt das Potenzial, wirklich zu verbinden, denn Verbindung entsteht nicht durch Glättung, sondern durch Tiefe. Auch Goethe kann verbinden, aber nur in seiner Ganzheit. Eine Gesellschaft, die zusammenwachsen will, muss lernen, Menschen nicht nur in Ausschnitten, sondern vollständig zu sehen.
Europa wird Rumi erst dann verstehen, wenn es ihn als islamischen Gelehrten akzeptiert und nicht nur als poetischen Mystiker. Muslime werden Goethe erst dann wahrhaft verstehen, wenn sie ihn nicht über die Frage seiner religiösen Identität definieren, sondern über die Tiefe seines Denkens.
Eine reife Begegnung: Was wir voneinander lernen können
Die eigentliche Frage lautet daher nicht, wie europäisch Rumi ist, und ebenso wenig, ob Goethe ein Muslim war. Die entscheidende Frage lautet, ob wir bereit sind, einander ganzheitlich anzusehen und wertzuschätzen. Der Rumi der Predigten ist ein Lehrer, der Menschen zur Wahrhaftigkeit aufruft.
Seine Liebe ist nicht bloß weich und tröstend, sondern ein Feuer, das reinigt und erhebt. Wenn Europa beginnt, diesen Rumi zu lesen, kann aus einer oberflächlichen Bewunderung eine echte geistige Begegnung stattfinden. Und wenn Muslime lernen, Goethe in seiner Ganzheit zu lesen, wird aus der fernen Ikone ein echter Gesprächspartner.
Aus dieser gegenseitigen Reifung entsteht die Möglichkeit einer neuen Art des Zusammenlebens. Nicht kulturelle Aneignung, sondern Begegnung. Nicht Projektion, sondern Verständnis. Nicht Abgrenzung, sondern Gemeinschaft.
Rumi und Goethe, beide groß und beide wahr, können uns dazu führen, einander tiefer zu verstehen. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir bereit sind, jeden von ihnen so anzunehmen, wie er war – ganz, und nicht in Ausschnitten.
Von Gott verirrt, hast du nur Schmach erworben;
Dich hüllen hunderttausend Schleier ein;
Du nährst den Leib, doch ist dein Herz erstorben;
Du siehst es morgen; doch zu spät wird’s sein.
Als Prediger sprichst du von der Menschheit Schwächen,
Und birgst dich hinter’m Vorhang härchenfein;
Wo sind die Taten die dem Wort entsprächen?
Du siehst es morgen; doch zu spät wird’s sein.
(Aus Rumis: Diwan asch-Schams, übersetzt von Vincenz von Rosenzweig, 1838)