Was den (Stadt)Bildern zugrunde liegt: Die Differenzierung hat es heute schwer – sie ist aber alternativlos.
(iz). Bilder sind heute zu dominierenden Kräften politischer Debatten geworden. Ob im Streit über das Stadtbild moderner Städte oder im Boykott einer Kanzlerrede durch Stipendiaten – immer häufiger entscheiden visuelle Eindrücke darüber, wie Ereignisse wahrgenommen und politisch eingeordnet werden.
Im digitalen Zeitalter, in dem soziale Medien visuelle Reize belohnen und in Sekundenbruchteilen verbreiten, verschieben sich politische Auseinandersetzungen von der inhaltlichen Ebene in eine symbolische Arena.
Das Problem: Der visuelle Moment wirkt schneller, emotionaler und unmittelbarer als jedes Argument. Neurowissenschaftlich ist belegt, dass visuelle Reize in etwa 100 bis 150 Millisekunden emotional verarbeitet werden, während Texte mehrere Sekunden benötigen.
Das Problem der Bilder: Der visuelle Moment wirkt schneller, emotionaler und unmittelbarer als jedes Argument
Ein Foto von „jungen Männern auf einem Bahnhofsvorplatz“ oder ein Video von Stipendiaten, die bei einer Rede des Bundeskanzlers Merz den Saal demonstrativ verlassen, erzeugt sofort Gefühle – Empörung oder Solidarität –, lange bevor irgendein Argument formuliert wird.
Deshalb sagen Politiker und Aktivisten heute oft: „If it’s not on camera, it didn’t happen.“ Noch bevor erklärt wird, worum es eigentlich geht, hat sich in vielen Köpfen bereits ein Deutungsrahmen verfestigt.
Besonders augenfällig zeigt sich diese Dynamik in der Stadtbild-Debatte. Architektur ist nicht nur gebaute Umwelt, sondern eine Projektionsfläche unserer gesellschaftlichen Werte.
Eine moderne Glasfassade kann als Angriff auf historische Identität empfunden werden, während sie andere als Fortschritt und Öffnung interpretieren. Ein einziges Bild eines Neubaus genügt, um Erzählungen über Entfremdung, Kommerzialisierung oder Zukunftsoptimismus zu aktivieren.

Foto: Ö. Mutlu/X
Komplexe Fragen geraten in den Hintergrund
Die komplexen planerischen oder sozialen Fragen geraten dabei leicht in den Hintergrund; das Bild übernimmt die politische Funktion eines Symbols, das Lager formt, Emotionen auslöst und vermeintliche Gewissheiten bestätigt. Auf gleiche Weise können Bilder aus Problemzonen deutscher Städte, die allein auf den ethnischen Hintergrund von Menschen abzielen, ganze Gruppen diskreditieren.
Durchaus ähnlich funktioniert die politische Bildlogik beim Boykott der Kanzlerrede anlässlich der Talisman Preisverleihung durch Stipendiaten. Studierende, die demonstrativ den Saal verlassen – solche visuellen Szenen entfalten eine Wirkung, die kaum ein Begleittext einholen kann.
Für die einen steht der Boykott für Mut und gesellschaftliches Engagement, für die anderen für Respektlosigkeit und politisches Kalkül. Noch bevor die Motive der Beteiligten bekannt sind, hat sich die Öffentlichkeit entlang der visuellen Geste sortiert. Individuen werden zu Figuren eines größeren politischen Narrativs, und aus einem konkreten Konflikt entsteht ein symbolischer Stellvertreterkampf um Werte, Moral und Deutungshoheit.
Dabei zeigt sich ein weiterer Aspekt der Bildlogik: Politiker nutzen einfache, oft missverständliche Bilder, um Botschaften zu transportieren – und werden zugleich von Bildern verschlungen. Bundeskanzler Merz etwa setzt in seiner Kommunikation immer wieder auf klare, zugespitzte visuelle und sprachliche Signale.
Doch bei der Rede vor der Talisman Stiftung wurde er selbst zum Bild, als zahlreiche Stipendiaten den Raum verließen. Die Szene – der Kanzler am Podium, vor ihm sich leerende Stuhlreihen – verbreitete sich rasant und dominierte die Wahrnehmung des Ereignisses.
Wichtige Botschaften seiner Rede, etwa die Sätze: „Die Geschichte des Ruhrgebiets ist mit Einwanderung so eng verbunden wie in wahrscheinlich keinem anderen Teil der Bundesrepublik Deutschland. Die Erfolgsgeschichte des Ruhrgebietes wäre ohne Einwanderung sicher keine Erfolgsgeschichte geworden“, gingen dabei nahezu vollständig unter.
Das Bild des Boykotts überlagerte den Inhalt der Rede – und kehrte die intendierte Wirkung ins Gegenteil: Statt Integrations- und Gesprächsbereitschaft wahrzunehmen, sah ein Großteil der Öffentlichkeit einen Kanzler, der „den Kontakt verloren“ habe. Das Ereignis wurde damit selbst zum Beispiel dafür, wie Bilder Argumente verdrängen.

Foto: Voyagerix, Adobe Stock
Soziale Medien bevorzugen Content mit hoher Emotionalität
Diese Dynamik wird durch soziale Medien massiv verstärkt. Algorithmen von TikTok, Instagram und X pushen Inhalte mit hoher Emotionalität und einfacher Botschaft. Ein 3-Sekunden-Clip von leeren Stühlen oder ein Foto von „überfüllten“ Innenstädten wird millionenfach geteilt – längere Zitate aus der Merz-Rede nicht. Die politische Realität wird zunehmend durch „virale Bilder“ definiert, nicht durch Argumentationsketten oder differenzierte Analysen.
Dass aus solchen Momenten schnell Vor- oder Feindbilder entstehen, liegt weniger an den Bildern selbst als an ihrer Einbettung in etablierte gesellschaftliche Erzählmuster.
Bilder funktionieren als Scharniere zwischen Wahrnehmung und Vorurteilen: Sie bestätigen vorhandene Glaubenssätze, verstärken emotionale Urteile und verdichten komplexe Sachverhalte zu scheinbar eindeutigen Botschaften. Wiederholung und mediale Verstärkung stabilisieren diese Zuschreibungen.
Vom Diskurs zur Emotion
Gleichzeitig sinkt das Vertrauen in Institutionen und Medien. Wenn Menschen Politikern, Journalisten und Statistiken nicht mehr glauben, wird das eigene Auge – oder genauer: das geteilte Bild – zur letzten verlässlichen Instanz. Das führt zu einer Art „optischem Populismus“: Wer das stärkere, emotionalere Bild liefert, gewinnt die Debatte – unabhängig von seiner Repräsentativität.
Wir erleben damit den Übergang von der textbasierten „Diskurs-Öffentlichkeit“ (Habermas) zur bildbasierten „Emotions-Öffentlichkeit“. Bilder besetzen inzwischen das politische Schlachtfeld, und weil sie so schnell Vorurteile und Feindbilder erzeugen, werden sie bewusst eingesetzt – von allen Seiten. Wer heute Politik macht oder verhindern will, muss zuerst das Bild kontrollieren, erst danach (wenn überhaupt) das Argument.
Diese Entwicklung hat historische Vorbilder. Schon Gustave Le Bon beschrieb 1895 in seiner „Psychologie der Massen“, wie Gruppen ihre individuelle Vernunft verlieren und zu einem eigenen psychologischen Wesen werden. Unverantwortlichkeit, emotionale Ansteckung und Suggestibilität prägen die Masse, die vor allem auf Bilder, starke Worte und einfache Parolen reagiert.
Vernunft spielt kaum eine Rolle: „Die Masse denkt in Bildern“, schreibt Le Bon, „und das Bild ruft ihr wiederum andere Bilder hervor, die mit dem ersten in keiner logischen Beziehung stehen.“ Führer und Meinungslenker nutzen deshalb einfache Techniken: Behauptung, Wiederholung, emotionale Ansteckung, Bilder und Schlagworte statt Argumente.
Genau diese Mechanismen zeigen sich heute in viralen Empörungswellen, Memes, Cancel Culture, Shitstorms und bei polarisierenden Influencern. Le Bon wirkt deshalb wie ein düsterer Prophet der modernen Aufmerksamkeits- und Empörungsökonomie.

Foto: Ekatarina, Adobe Stock
Wie gehen wir mit den Bildern um?
Doch der Einfluss von Bildern muss nicht zwangsläufig manipulativ sein – er hängt von unserem Umgang mit ihnen ab. Wer die eigene Reaktion verlangsamt, erkennt eher, wann ein Bild eine emotionale Abkürzung auslöst und ob diese mit Fakten übereinstimmt.
Wer nach Kontext fragt, entzieht Bildern ihre scheinbare Eindeutigkeit. Und wer zugrunde liegende Narrative durchschaut, erkennt schneller, ob ein Foto tatsächlich etwas zeigt – oder lediglich eine Geschichte bedient, die wir ohnehin schon im Kopf haben.
Für uns Muslime stellt sich heute die Frage, ob wir ebenso auf die Macht der Bilder, bis hin zur Verbreitung von Feindbildern setzen wollen oder auf die guten Argumente setzen wollen, die sich aus unserer Lehre ergeben. Wie können wir dazu beitragen, dass das Niveau der Debatte nicht immer weiter sinkt?
Zur Hermeneutik gezwungen
Gerade gewinnt eine alte Disziplin wieder an Bedeutung: die Hermeneutik. Sie erinnert daran, dass Verstehen ein aktiver, interpretativer Prozess ist, der Kontext, Perspektiven und Ambivalenzen berücksichtigt. Hermeneutisches Denken zwingt uns, hinter die Oberfläche der Bilder zu schauen und das Dargestellte kritisch zu beleuchten. Ursprünglich als Theorie der Textinterpretation entwickelt, spielt Hermeneutik auch in der Gesprächsführung eine zentrale Rolle.
Sie fördert das Bemühen, die Perspektiven des anderen zu verstehen – nicht nur das Was, sondern auch das Warum und Wie einer Aussage. Dialogisches Verstehen bedeutet dabei wechselseitiges Interpretieren, aktives Zuhören und die Bereitschaft, die eigene Sichtweise zu hinterfragen.
Wer die gesellschaftliche Frage, nach dem Wesen des Islam und den Absichten der Muslime in Deutschland selbstbewusst beantworten will, muss sich auf entsprechende Diskussionen einlassen.

Foto: Jose Aljovin, Unsplash
Für den Philosophen Hans-Georg Gadamer entsteht Wahrheit im Gespräch selbst, als „Verschmelzung von Horizonten“. Dialog wird zum Herzstück des Verstehens, Sprache zum Medium aller Erkenntnis: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“
Hermeneutik wird so zu einem humanistischen Bildungsprojekt, das Verstehen als fundamentalen Lebensvollzug begreift. Das Problem ist nicht, dass Menschen Vorurteile haben, solange darüber ein Bewusstsein entsteht und die Bereitschaft besteht, den Wahrheitsgehalt von Urteilen fortlaufend einer Prüfung zu unterziehen.
Gadamer formuliert die Dialektik, die Kunst des Fragens, in seinem Hauptwerk, Wahrheit und Methode wie folgt:
„Wer die Kunst des Fragens besitzt, ist einer, der sich gegen das Niedergehaltenwerden des Fragens durch die herrschende Meinung zu wehren weiß. Wer diese Kunst besitzt, wird selbst nach dem Suchen, was für eine Meinung spricht. Dialektik besteht darin, dass man das Gesagte nicht in seiner Schwäche zu treffen versucht, sondern es selbst zu seiner wahren Stärke bringt.“
Das heißt: Das souveräne Denken weicht der Diskussion nicht aus, nimmt Kritik auf und ist nicht auf Feindbilder angewiesen, um eigene Antworten nicht formulieren zu müssen. Die Argumentation für oder gegen den Islam, die sich heute entfaltet, muss sich dabei fragen lassen, ab welchem Punkt die eigene Haltung ideologisch wird.
Die Kultur eines solchen offenen Austausches sucht in der deutschen Öffentlichkeit nach einem passenden Ort, den die sozialen Medien mit ihrer Oberflächlichkeit nicht bieten können.
Eine Chance für Differenzierung?
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Haben differenzierte Positionen in einer bildgetriebenen Öffentlichkeit überhaupt noch eine Chance? Ja – aber nur unter bestimmten Bedingungen.
Nischen und Langformate wie Podcasts, lange YouTube-Interviews oder seriöse Printmedien erreichen weiterhin ein Publikum, das Differenzierung schätzt. Personen mit Glaubwürdigkeit über Lagergrenzen hinweg können differenzierter argumentieren, weil ihre persönliche Marke Vertrauen schafft.
In echten Krisen steigt kurzfristig die Nachfrage nach Expertise und Analysen – das Fenster schließt sich jedoch schnell wieder. Und neue Formate versuchen, Differenzierung attraktiv zu machen.
Für uns Muslime gilt es, derartige Angebote aktiv zu gestalten. Sonst droht die Gefahr, dass politisierte muslimische Influencer die Definitionshoheit über unsere Lehre in der Öffentlichkeit erringen.
Im Ergebnis wird jede Autorität, die sich auf umfangreiches Wissen stützt und deswegen Fragen souverän beantworten kann, geschwächt. Ein besonnener Staat wird darin keinen Nutzen sehen, sondern eher die Gefahr, dass sich unzählige Interpretationen und Extreme verbreiten.
Ja, Differenzierung hat es schwer – aber sie ist alternativlos. Nur wer bereit ist, nicht nur zu sehen, sondern zu verstehen, kann in einer emotionalisierten Öffentlichkeit zur demokratischen Verständigung beitragen.