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60 Jahre „Nostra Aetate“ – ein neues Kapitel des Dialogs

Ausgabe 366

dialog Nostra Aetate
Foto: Lefteris Papaulakis, Adobe Stock

Die Erklärung Nostra Aetate wird 60 Jahre alt. Eine Muslima reflektiert über den anhaltenden Ruf nach christlich-muslimischer Verständigung

(iz). Ich wuchs als muslimisches Einwandererkind in der schönen Stadt Mainz auf. Umgeben von einer reichen katholischen Kultur spürte ich oft die Last, als „anders“ angesehen zu werden.

Ich erlebte am eigenen Leib sowohl die Schönheit als auch die Spannung, die das Leben zwischen religiösen Welten mit sich bringen kann. Zu Hause rezitierte ich den Qur’an, in der Schule sang ich Weihnachtslieder. Ich fastete während des Ramadan, während meine Klassenkameraden Adventskalender öffneten.

Schon als Kind erkannte ich, dass unsere Glaubensrichtungen nicht so weit voneinander entfernt waren, wie sie oft dargestellt. Ich wurde dazu erzogen, Jesus zu verehren nicht nur als Prophet, sondern als eine der beliebtesten Figuren im Islam. Ich wusste von Maria, deren Name im Qur’an mehr geehrt wird als der jeder anderen Frau.

Wenn ich meine Familie und Freunde im Osten der Türkei besuche, bewundere ich oft die alte Aghtamar Heilig-Kreuz-Kirche. Es erinnert mich daran, wie Christen und Muslime im riesigen islamischen Reich fast 1.300 Jahre lang größtenteils friedlich zusammenlebten. Und ich glaube an den einen Gott – an Barmherzigkeit, an Verantwortlichkeit und an einen gemeinsamen moralischen Ruf nach Gerechtigkeit.

Foto: Catholic Press Photo/Wikimedia Commons | Lizenz: gemeinfrei

Heute, in einer Zeit, in der jede zweite muslimische Frau in Europa Diskriminierung erlebt, denke ich über die anhaltende Notwendigkeit christlich-muslimischer Zusammenarbeit nach. In „Nostra Aetate“, dem bahnbrechenden Dokument der katholischen Kirche über ihre Beziehungen zu anderen Religionen, sah ich eine Vision, die meine Erfahrung bestätigte. Eine Vision, die beide einlädt, ihre Angst zu überwinden und sich gegenseitigem Respekt, gemeinsamen Werten und einer gerechteren Zukunft zuzuwenden.

Der Geist dieses Dokuments gab mir als Muslima die Möglichkeit, an der Georgetown University – einer katholischen Institution – zu studieren und auf demselben Campus als muslimische Seelsorgerin zu arbeiten. Ich unterstützte Studenten aller Glaubensrichtungen und ohne Glauben und lernte, wie transformativ echte christlich-muslimische Beziehungen sein können.

Das Dokument löscht die schmerzhaften Kapitel unserer verbindenden Geschichte nicht aus – und das sollte es auch nicht. Beide sollten die Vergangenheit nicht vergessen, dürfen sich aber ebenfalls nicht von ihr gefangen nehmen lassen. Der einzige Weg nach vorn führt gemeinsam, in Wahrheit und gegenseitigem Respekt.

Während diese Vision einen großen Wandel in der Geschichte der katholischen Kirche darstellte, bemühten sich die Muslime auch, die Beziehungen zu anderen Gemeinschaften zu verbessern.

So schrieb beispielsweise der Gelehrte Bediüzzaman Said Nursi einen Brief an Papst Pius XII., in dem er seine Hoffnung auf eine Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen gegen wachsende Feindseligkeit, weit verbreitete Armut und moralischen Verfall zum Ausdruck brachte.

1953 besuchte Nursi den Patriarchen Athenagoras in Istanbul, um ihn um Kooperation zu bitten. Seine Vision war im Vorbild und in den universalen Lehren des Propheten Muhammad (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden) verwurzelt und hat immer noch Bestand: Zusammenarbeit, die im Glauben ruht.

Deshalb war ich tief bewegt, als ich erfuhr, dass Papst Johannes Paul II. bei seinem apostolischen Besuch in meiner Heimatstadt Mainz im Jahr 1980 sich direkt an die muslimischen Einwanderer – meine Gemeinde – wandte und unsere Anwesenheit, unseren Glauben und unsere Würde bestätigte:

„Aber nicht alle Gäste in diesem Land sind Christen; eine besonders große Gruppe bekennt sich zum Glauben des Islam. Auch euch gilt mein herzlicher Segensgruß!

Wenn ihr mit aufrichtigen Herzen euren Gottesglauben aus eurer Heimat hierher in ein fremdes Land getragen habt und hier zu Gott als eurem Schöpfer und Herrn betet, dann gehört auch ihr zu der großen Pilgerschar von Menschen, die seit Abraham immer wieder aufgebrochen sind, um den wahren Gott zu suchen und zu finden.

Wenn ihr euch auch in der Öffentlichkeit nicht scheut, zu beten, gebt ihr uns Christen dadurch ein Beispiel, das Hochachtung verdient. Lebt euren Glauben auch in der Fremde und lasst ihn euch von keinem menschlichen oder politischen Interesse missbrauchen!“

Dieser Moment ist wichtig. Diese Gesten sind wichtig in einem wachsenden Klima der Entmenschlichung und Dämonisierung muslimischer Einwanderer und Flüchtlinge.

Foto: CNS/Paul Haring

Und in unserer Zeit hat Papst Franziskus dieses Erbe fortgeführt. In „Fratelli Tutti“ ruft er Menschen aller Glaubensrichtungen – und auch solche ohne Glauben – dazu auf, einander als Brüder und Schwestern anzuerkennen. Inspiriert von seiner Freundschaft mit Groß Imam Ahmed el-Tayeb der al-Azhar bekräftigte der ehemalige Papst Franziskus, dass „authentische Religion“ eine Kraft für Frieden und Solidarität sein muss.

Die Botschaft von Nostra Aetate ist daher nicht nur für Geistliche und Theologen, sondern auch für die breite Öffentlichkeit nach wie vor relevant. Sie soll der nächsten Generation helfen, die Komplexität unserer Geschichte zu verstehen und sich eine gemeinsame Zukunft vorzustellen.

Wir leben in einer Welt der Polarisierung, doch dieses Dokument erinnert uns daran, dass christlich-muslimische Zusammenarbeit nicht naiv, sondern notwendig ist. Und dass wir in den heiligen Schriften und Herzen des anderen die Grundlagen für respektvolle Beziehungen, Gerechtigkeit und Frieden finden können.

Dr. Zeyneb Sayılgan ist Islamwissenschaftlerin am Institut für Islamische, Christliche und Jüdische Studien in Baltimore. Ihre Forschung beschäftigt sich mit dem theologischen Gedankengut von Bediüzzaman Said Nursi (1876–1960). Zeyneb’ s Arbeit wurde in The Guardian, Religion News Service, U.S. Catholic, The Living Church sowie deutschen und türkischen Medien veröffentlicht. Ihre Artikel und ihr Podcast sind auf ihrem Blog zugänglich.

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