Die muslimische Maria

Ausgabe 344

24 Stunden Tagesablauf Berlin maria
Foto: imago | Joachim Schulz

Dr. Zeyneb Sayılgan über Maria eine Symbolfigur der Hingabe, Tugend und Hoffnung.

(iz). Die besinnliche Weihnachtszeit ist vorbei. Für mich als Muslimin ist dies immer eine Zeit der Erinnerung an die heilige Maria oder Maryam (Türkisch: Meryem), wie sie im Qur’an genannt wird. Ich entdecke oft neue Aspekte ihrer einzigartigen Persönlichkeit und habe meine Gedanken dazu schon früher geteilt.

Es überrascht daher nicht, dass Muslime die Weihnachtszeit zum Anlass nehmen, um über Marias spirituelles Erbe zu reflektieren. Sie verbindet uns – Juden, Christen und Muslime – auch wenn wir unvereinbare theologische Differenzen über ihren Status hegen.

Wer war Maria?

Als Tochter einer jüdischen Rabbinerfamilie aus Nazareth wird sie später im Christentum als „Mutter Gottes“ verehrt. Für Muslime hat sie auch einen besonderen Stellenrang, weil sie ein Vorbild der absoluten Gotteshingabe, Aufrichtigkeit und Tugend ist.

Sie ist geehrt aufgrund ihrer einzigartigen Persönlichkeit – nicht nur als die Mutter Jesu, sondern speziell weil sie Maria ist.

Im Qur’an wird dieser Aspekt daher hervorgehoben: „O Maria, Gott hat dich auserwählt und geläutert, und Er hat dich vor allen (anderen) Frauen der Welten bevorzugt“, (Al-‘Imran, Sure 3, 42). 

Marias Sohn wird im Qur’an daher oft als „Jesus, Sohn der Maria“ (Arabisch: ‘Isa ibn Maryam) bezeichnet: „Der Messias, der Sohn der Maria, ist nur ein Gesandter, dem (andere) Gesandte vorausgegangen waren, und seine Mutter war eine Wahrhaftige“, (Al-Ma’ida, Sure 5, 75).

Seine Mutter ist es, die ihm einen besonderen Rang verleiht – nicht umgekehrt. Es überrascht daher nicht, dass im Qur’an das neunzehnte Kapitel – die Sure Maryam – nach ihr benannt ist. In Allahs Buch ist sie die einzige Frau, die namentlich 34 Mal erwähnt wird.

Bis heute pilgern Muslime und Nichtmuslime aus aller Welt zu Marias Haus (Hz. Meryem Ana Evi) nach Efes in die Türkei. Es ist eine zutiefst bewegende Erfahrung.

Die aufrichtige Gläubige

Diese besondere Jahreszeit ist daher eine Rückkehr an die Werte, die Maria als aufrichtige Gläubige verkörpert. Sie war und bleibt immer wegweisend für mich und viele andere Muslime.

Meine Tochter Meryem habe ich deswegen nach ihr benannt. Für mich war diese Namensgebung ein aufrichtiges Gebet, eine Hoffnung. Ich betete zu meinem Schöpfer, dass auch mein Kind das Vorbild der heiligen Maria nachahmen wird. Ich folgte dem Beispiel von Marias Mutter – der heiligen Anna oder Hannah – und wiederholte die Worte, die sie während ihrer Schwangerschaft sprach: „Mein Herr, ich gelobe Dir, was ich in meinem Mutterleib trage. Es soll Dir (und Deinem Dienst) geweiht sein, also nimm (es) von mir an. Wahrlich, Du bist der Allhörende, der Allwissende“, (Al-i-‘Imran, Sure 3, 35).

Marias Mutter Anna ist zuerst schockiert. Sie hatte einen Sohn erwartet, den sie dem heiligen Tempel weihen wollte. Aber Gott beruhigt sie. Maria ist seine Wahl, sein Wunsch, sein Wille:

„Als sie (das Kind) geboren hatte, sagte sie: ‘Mein Herr, ich habe ein Mädchen (zur Welt) gebracht – Gott wusste sehr wohl, was sie zur Welt gebracht hatte; und das Männliche ist nicht wie das Weibliche –, und ich habe sie Maria genannt. Und ich möchte, dass sie und ihre Nachkommenschaft bei Dir Zuflucht finden vor dem verbannten Satan“, (Al-i-‘Imran, Sure 3, 36).

Die heilige Maria wird in die Obhut des Propheten Zacharias gegeben und als erstes weibliches Mitglied wird ihr der Zugang zum heiligen Tempel in Jerusalem gewährt. Auch hier blicke ich zu ihr auf. Zu oft wurden mir und vielen anderen muslimischen Mädchen und Frauen aufgrund unserer religiösen Glaubenspraxis der Eintritt in die Mehrheitsgesellschaft verweigert. Maria – ein Symbol der Hoffnung für positive Veränderung. 

Das mutige, junge Mädchen

Maria, das junge, mutige Mädchen, das den Status Quo der religiösen Elite, der männlichen Kleriker, des kräftigen Patriarchats in Frage stellt. Gott kann alle Hindernisse beseitigen, solange man ihm voll und ganz vertraut. 

Dort in ihrer Gebetsnische (mihrab) verbringt Maria ihre Zeit im aufrichtigen Gottesdienst. Der mihrab – derselbe Begriff für den Abschnitt in der Moschee, der die Gebetsrichtung anzeigt. Maria ist allgegenwärtig im täglichen Gebetsritual und stets in muslimischer Erinnerung.

Zacharias findet sie vor mit speziellen Früchten und Gaben und ist überrascht: „Da wandte sich ihr Herr ihr gnädig zu und ließ sie in bester Weise in der Obhut Zacharias heranwachsen. Jedes Mal, wenn Zacharias zu ihr in die Gebetsstätte (des Hauses) eintrat, fand er bei ihr Nahrung. Er sagte: ‘Maria, woher hast du das?’ Sie sagte: ‘Es kommt von Gott. Gott versorgt wen Er will, ohne berechnen (zu müssen)‘“, (Al-i-‘Imran, Sure 3, 37).

Maria provoziert mit ihrer Antwort. Sie stellt die Kausalität in Frage. Gott ist der wahre Verursacher von Ursachen. Die Kausalität ist nur ein Vorhang, um uns herauszufordern und unsere Überzeugung zu prüfen.

Es ist nicht die Wolke, die den Regen schickt. Die Wolke hat kein Bewusstsein, keinen Verstand und hegt keine Barmherzigkeit. Es ist Gott – der wahre Barmherzige, der wahrhaftige Versorger, der uns und unsere Bedürfnisse kennt und auf sie angemessen antwortet. Genau dann und dort wird Zacharia von Marias tiefgründiger Antwort dazu bewegt, Gott um ein Kind zu bitten. Er erkennt, dass Gott ihm auch im hohen Alter einen Nachkommen schenken kann, weil er der Mächtigste ist:

„Da betete Zacharias zu seinem Herrn und sagte: ‘Mein Herr, schenke mir eine gute Nachkommenschaft (die Dir gefällig ist). Du bist es, der die Bitten erhört.’ Als er in der Gebetsstätte (des Hauses) stand, riefen ihm die Engel zu: ‘Gott verheißt dir (die Geburt) von Johannes, der (später) ein Wort Gottes bestätigen wird. Er wird ein Führer, ein keuscher Mann und ein Prophet unter den Rechtschaffenen sein.’ Er sagte: ‘Mein Herr, wie soll ich einen Sohn bekommen, wo mich bereits das (hohe) Alter erreicht hat und meine Frau unfruchtbar ist?’ (Der Engel) sagte: ‘So (wird es sein), Gott tut, was Er will.’“ (Al-i-‘Imran, Sure 3, 38-40)

Eine unendliche Inspiration

Ihr Leben ist eine unendliche Inspiration. Sie lädt diejenigen von uns ein, die in einer Welt der Kausalität operieren, die wahre Einheit Gottes zu bejahen und unsere Ansichten zu überdenken. Aber Maria ist auch manchmal selber überrascht, fast schon beängstigt, wenn ihr der Engel Gabriel erscheint und ihr die frohe Botschaft über die Geburt ihres Sohnes verkündet. Kann eine Frau ohne einen Mann ein Kind gebären? Für Gott – den wahren Verursacher der Ursachen – ist nichts unmöglich: 

„Und gedenke was in der Schrift über Maria (steht), als sie sich von ihrer Familie an einen östlich gelegenen Ort zurückzog und sich mit einem Schleier (vor möglichen Blicken) abschirmte. Da entsandten wir unseren Geist (Gabriel), der sich ihr in der Gestalt eines vollkommenen Menschen zeigte. Sie sagte: ‘Ich suche Zuflucht vor dir beim Allerbarmer. Wenn du ihn fürchtest (so nähere dich nicht von mir).’ Er erwiderte: ‘Ich bin nur ein entsandter (Engel) deines Herrn, um dir die frohe Botschaft eines reinen Sohnes zu verheißen.’ Sie sagte: ‘Wie sollte ich einen Sohn bekommen, wo mich kein Mann (je) berührt hat und ich keine Unzüchtige bin?’ Er sagte: ‘So sei es. Dein Herr hat gesagt: ‘Das fällt Mir leicht. Wir werden ihn zu einem Zeichen und zu einer Barmherzigkeit von Uns für die Menschen machen. Dies ist eine beschlossene Sache‘“, (Maryam, Sure 19, 16-21).

In der Lebenserfahrung der heiligen Maria sehe ich die Verzweiflung, Furcht aber auch die Hoffnung einer Mutter. Maria ist so natürlich, so menschlich, so nahbar. Als sie in der Wildnis alleine ihr Kind auf die Welt bringen muss, erinnere ich mich an die emotionalen und körperlichen Anstrengungen, die jede werdende Mutter während ihrer Schwangerschaft erfahren muss.

Maria, ohne jegliche Unterstützung und ohne jedwede Hilfe oder Ressource, ist nun komplett von der Außenwelt abgeschottet. Wie kann sie in dieser Wüste ihr Kind gebären und versorgen? Ein Kind ohne Vater? Ein Skandal! Ihre Gemeinschaft wird sie dafür steinigen. Eine Rückkehr ist zudem ausgeschlossen.

Ihre Aussichtslosigkeit und ihr Schmerz sind spürbar in ihren Worten. Sie ist am Ende. Sie möchte nur noch sterben: Während der Geburtswehen lehnte sie sich an den Stamm einer Dattelpalme und sagte: „O wäre ich doch zuvor gestorben und in Vergessenheit geraten“ (Maryam, Sure 19, 23).

Aber es ist genau in diesem intimen Moment der schmerzhaften Einsamkeit, der gewaltigen körperlichen Anstrengung, in der Gott, der Erlöser, seine Hilfe spürbar macht: „Da rief ihr (ein Engel) von unten her zu: ‘Sei nicht bekümmert. Dein Herr hat dir einen Bach zu Füßen gelegt, und wenn du den Stamm der Palme in deine Richtung schüttelst, so werden frische, reife Datteln auf dich herabfallen. Iss, trink und sei erfreut.’“ (Maryam, Sure 19, 24-26).

Maria – eine Inspiration für uns Heutige

Das Leben der Maria ist eine unendliche Inspiration. Ihre Persönlichkeit ist facettenreich. Wie konnte ich daher nicht meine Tochter nach ihr benennen? Meine Meryem wurde am 12. Dezember 2018 unter sehr schwierigen Umständen geboren und wurde von einem Lastwagenfahrer tragischerweise am 2. Dezember 2022 – zehn Tage vor ihrem vierten Geburtstag – getötet.

Meine christlichen und jüdischen Mitmenschen haben in dieser schwierigen Zeit genau wie meine muslimische Gemeinde für meine Meryem und Familie gebetet. In Kirchen und Synagogen wurden Gebete für sie gesprochen.

Für mich war das eine Antwort auf mein Gebet: Meryem hat Menschen auf wundersame Weise zusammengeführt, sie tief in ihrem Herzen erreicht und zum Umdenken bewogen. Ihre Geburt war ein Wunder, aber auch ihr Tod hat zu einem tiefen spirituellen Erwachen von so vielen Menschen geführt. Darüber habe ich hier so viel reflektiert.

Meryem kam im US-Bundesstaat Virginia auf die Welt und wurde im Bundesstaat Maryland beerdigt. Beide Staaten führen ihren namentlichen Ursprung auf die heilige Maria zurück. Für mich kein Zufall. Sie verbindet uns immer noch.

Gottes Barmherzigkeit war Marias stetiger Begleiter. Sie verlässt uns niemals – auch nicht im tiefsten Schmerz. Als trauernde Mutter weiß ich, dass der Verlust eines Kindes die größte Tragödie im Leben eines Menschen ist. Ich vermisse meine Meryem jede Sekunde.

Der Herzschmerz und die süße Sehnsucht wird nie vergehen. Aber durch das Vorbild der heiligen Maria habe ich Hoffnung. Meine unerschütterliche Überzeugung, dass mein barmherziger Schöpfer uns mit unseren Liebsten im Jenseits wieder vereinen wird, gibt mir genug Kraft und Geduld diesen schmerzhaften Weg zu gehen.

* Dr. Zeyneb Sayılgan ist Islamwissenschaftlerin am Institut für Islamische, Christliche und Jüdische Studien in Baltimore, USA. Als Kind kurdischer Migranten aus der Türkei ist sie in Mainz geboren und aufgewachsen, bis sie im Jahr 2006 in die Vereinigten Staaten auswanderte. Ihre Forschung setzt sich mit dem theologischen Gedankengut des muslimischen Gelehrten Bediüzzaman Said Nursi (1876-1960) auseinander. Hierzu moderiert sie den Podcast Begegnung mit dem Islam: Weisheiten aus der Risale-i Nur.