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Der Qur’an in der Weltgeschichte

Ausgabe 255

Foto: Mustafa Bader | Lizenz: CC BY-SA 4.0

(iz). Im Jahr 2002 veröffentlichte der Literaturkritiker Prof. Joachim Kaiser sein monumentales Werk „Das Buch der 1000 Bücher“. Darin stellte er dem Leser die wichtigsten Bücher vor, die die westliche Landschaft nachhaltig geprägt haben, ja sogar weitreichend die „Sprache sowie die Kultur der westlichen Welt durchwirkt“ haben. Allerdings publizierte in Deutschland bereits zwei Jahre zuvor der Islamwissenschaftler Dr. Navid Kermani seine Dissertation „Gott ist schön – Das ästhetische Erleben des Koran“. In einer breit angelegten Studie versucht Kermani, dem deutschen Leser anhand der ästhetischen Komponente und Rezeption des Qur’an aufzuzeigen, welche ästhetische Wirkung insbesondere durch sprachliche Schönheit er auf seine Leser und Zuhörer hat.
Schauen wir in die Geschichte, so konnte auch der zweite Kalif des Islam, ‘Umar ibn al-Khattab (gest. 644), sich der literarischen Wirkung des Qur’an nicht entziehen. Die historischen Berichte zeugen aufschlussreich davon, dass er auf dem Weg war, um den Propheten Muhammad zu töten. Dabei erfuhr er jedoch von einem Passanten, dass sein Schwager Sa´id ibn Zaid und seine Schwester Fatima den Islam angenommen hatten. Enttäuscht und wütend lief er hastig zu ihnen ins Haus und beabsichtigte, seinen Schwager aufgrund der Konversion zum Islam zu schlagen. Schließlich bemerkte er die Qur’anblätter der Sure Taha und begann, sie konzentriert zu lesen. Unmittelbar danach musste Umar ehrfürchtig und vor Erstaunen innehalten und inbrünstig ausrufen: „Wie wunderschön, wie erlesen ist diese Rede!“
Die literarisch- ästhetische Komponente
Eine Reihe von Orientalisten – allen voran Theodor Nöldeke (gest. 1930) – sind lapidar zu der Meinung gelangt, in der qur’anischen Sprache keineswegs literarisch-stilistische Vollkommenheit verifiziert zu haben. Die Sprache des Textes bezeichnete er als  „gedehnt, matt und prosaisch“ und bemängelte zudem „die ewigen Wiederholungen“ und „die aller Schärfe und Klarheit entbehrende Beweisführung“.
Doch wer muttersprachlich Arabisch spricht, gesteht unwillkürlich ein, im Qur’an eine linguistische Unnachahmlichkeit (idschaz) zu verspüren. Der Herausgeber einer überarbeiteten Qur’anübertragung von Max Henning, Dr. Murad Wilfried Hofmann, skizziert die außergewöhnliche Eloquenz des heiligen Textes, die sogar selbst in der Perzeption bei Nichtmuslimen Verwunderung erwecken kann: „Ein Nichtmuslim mag den Inhalt des Qur’an ablehnen, nicht entziehen kann er sich aber der Faszination, welche von der Sprachgewalt und poetischen Kraft des Textes ausgeht und die schon Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Rückert begeistert hatte. Für Araber ist schon die Reinheit und Harmonie der Sprache des Qur’an Beweis seiner übernatürlichen Herkunft.“
Im Qur’an wird tatsächlich der Anspruch erhoben, „unnachahmlich“ unter allen Büchern zu sein. In seinem Werk „Al-Schifa“, das die Osmanen aus Respekt sogar als „Sifa Serif“ bezeichneten, wies der malikitische Rechtsgelehrte Qadi ‘Ijad auf die außergewöhnliche Hingabe der Araber zum eloquenten Umgang mit ihrer Sprache folgendermaßen hin: „Dabei sind die Araber die größten Meister auf diesem Gebiet und gelten als die Helden des gesprochenen Wortes, denen in der Tat Eloquenz und Worte der Weisheit verliehen wurden, wie keiner anderen Nation. Wie sonst keinem Volke wurde ihnen eine eindeutige, beredte Reinheit des sprachlichen Ausdrucks sowie eine direkte und deutliche, den Verstand im Innersten beeindruckende Art der Ansprache gegeben.“
Die Mekkaner waren vom Qur’an sehr erfasst und betroffen, denn seine sprachliche Schönheit und Wucht übertraf alles, was sie bislang erfahren durften. Er markierte durch seinen Stil einen expliziten Bruch mit der poetischen Tradition der arabischen Halbinsel. In der Sure Al-Ma’ida, Vers 83-84, wird die Situation und der Zustand der Nichtgläubigen vorgeführt, die sich weder seiner beispiellosen Wirkung entziehen noch ihre geheime Bewunderung mehr verhehlen konnten. Ihre Hochachtung durchdrang ihre Herzen so sehr, dass sie ehrfürchtig die Tränen nicht zurückhalten konnten: „Und wenn sie hören, was dem Gesandten herabgesandt, siehst du ihre Augen überfließen von Tränen kraft der Wahrheit, die sie erkennen. Sie sagen: ‘Unser Herr, wir glauben, verzeichne uns unter den Zeugen! Warum sollten wir nicht glauben an Allah und an das, was uns gekommen von der Wahrheit, da wir ersehnen, dass uns unser Herr lasse eintreten mit den rechtschaffenen Leuten?’“
Nichts in seiner Biographie deutete daraufhin, dass Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm frieden geben, jemals zuvor dichterisch begabt oder als solcher in der Öffentlichkeit aufgetreten war. Wie könnte er auch, wo doch das heilige Buch apodiktisch nachweist, dass er weder lesen noch schreiben konnte und dennoch durch Allah das Schönste aller Werke in arabischer Sprache hervorbrachte, dessen Eloquenz gerade das größte Wunder im Islam ist: „Und nie vorgetragen hast du zuvor eine Schrift und nie geschrieben mit deiner Rechten, sonst hätten gezweifelt daran die Vereitler.“ (Al-Ankabut, 48)
Auch wird von Abu Huraira berichtet, dass der Prophet den grundlegenden Unterschied zu seinen Vorgängern mit dem folgenden Satz unterstrichen habe: „Jedem Propheten wurden Wunder gegeben, wegen derer die Menschen geglaubt haben, und (das Wunder), welches mir gegeben wurde, ist eine göttliche Offenbarung (…).“
Der berühmte asch’aritische Literaturwissenschaftler und Philologe Abdalqahir Al-Dschurddschani beschrieb in seinem bis heute angesehenem Buch „Beweise für die Unnachahmlichkeit des Glorreichen Qur’an“, dass das Studium der Dichtung von großer Wichtigkeit, ja sogar religiöse Pflicht sei, um zu verstehen, welche sprachliche Eloquenz und Unnachahmlichkeit sich hinter dem Phänomen der Qur’anverse verbirgt. So schreibt er: „Die Untersuchung des Diskurses der Araber und ihrer Dichtung ist eine notwendige Vorbedingung, um die linguistischen Phänomene zu verstehen, die sich im Qur’an in unnachahmlicher Weise finden.“
Stillistische Besonderheiten des Qur’an
Im Qur’an werden stilistische Methoden verwendet, die als „Gleichnisse“ in sämtlichen Suren immer wieder planvoll eingesetzt werden, um spirituelle Wahrheiten vereinfacht darzustellen oder, um wichtige theologische und normative Lehren zu vermitteln. Er soll seinen Sinngehalt so einfach wie möglich an alle Adressaten vermitteln.
Deshalb besteht unter anderem die Bedeutsamkeit darin, übersinnliche Beschreibungen in Allegorien und Metaphern auszudrücken. Schließlich ist die arabische Sprache nicht anders als die anderen durch das Benennen sichtbarer Gegenstände entstanden. Nicht erfassbare Gegebenheiten werden somit in Bilder übertragen, um das eigentlich Unbeschreibbare im Denkvermögen des Menschen anzusprechen. Deswegen wird in der Schrift des Öfteren von Bildern und Gleichnissen (mathal) gesprochen.
Eine weitere stilistische Besonderheit des Qur’ans ist, dass Allah darin unterschiedliche Personalpronomen verwendet wie „Ich“, „Wir“ oder „Er“. Mit diesem Verwirrspiel des Subjekts wird präventiv einem vermenschlichenden Verständnis von Allah als Person entgegengewirkt. Für den Qur’an ist bezeichnend, das Allah nicht durchgehend in der ersten, sondern oft auch in der dritten Person zu den Menschen spricht: „Er ist ein einiger Allah, darum verehret nur Mich.“ (An-Nahl, 53)
Selbstverständlich bleibt noch abzuwarten, ob die westliche Qur’anforschung endlich beiden Seiten der Medaille gerecht nachkommen wird. Trotz einzelner positiver Versuche konstatieren nicht ohne Grund eine Anzahl von Islamwissenschaftlern, dass der Durchbruch zur tieferen Einsicht trotz der großartigen Leistung von Friedrich Rückert auch in naher Zukunft verwehrt bleiben wird.  Deshalb bleibt es weiterhin gespannt abzuwarten, ob die gegenwärtige Forschung eines Tages in den Sattel von Friedrich Rückert aufzuspringen vermag.