
(Al Madina Institute). Bedauerlicherweise haben viele Muslime Religion zu einem bloßen Schlachtruf werden lassen; getrennt von allen wunderbaren Dingen. Das wurde mir bei einem kleinen Austausch mit jungen Studenten in New York deutlich. Ich traf sie nach einem Event, bei dem ein Gastgelehrter aus Syrien sprach, was vom Publikum als tiefgreifend wahrgenommen wurde. Einige Leute reagierten sehr verstört, als der Alim von großen Muslimen der Vergangenheit als „Heilige“ sprach. Jemand sagte: „Heilige sind ein christliches Phänomen. Muslime glauben nicht an sie, richtig?“
Das erwischte mich anfänglich auf dem falschen Fuß. Wahrscheinlich hätte ich nicht überrascht sein sollen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich wohl nicht anders reagiert. Es ist wahr, dass dieser Begriff gezielt mit dem Christentum, namentlich mit dem Katholizismus, in Verbindung gebracht wird. Katholiken bezeichnen bekannte Gelehrte und Denker wie Thomas Aquinas oder Augustin als Heilige. Muslime jedoch nutzen diese Bezeichnung nur selten. Aber haben Christen ein Monopol darauf?
Ich wage zu behaupten, dass es ein solches nicht gibt. Traditionell benutzen Muslime das arabische Wort Wali (pl. Aulija) oder auch Wali-Allah (Freund Allahs). Damit beschreiben sie eine besondere Person. Das Verb aus der gleichen Wurzel bedeutet nahe sein, zu folgen oder ein Freund zu sein. Mit anderen Worten, eine solche Person ist in der muslimischen Tradition eine, die Allah nahe ist.
Manchmal können sie Beweise für die Existenz Allahs selbst sein. Mittel, durch welche die Leute glauben. Der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, war solch ein Beweis für seine Gefährten. Und Abu Hamid Al-Ghazali war unter dem Ehrennamen „Beweis des Islam“ bekannt. Er sagte: „Manchmal kann der Glaube kommen, wenn man den Zustand einer gottesfürchtigen Person beobachtet und man durch den Umgang mit ihr sowie ihre Anwesenheit ihr Licht empfängt.“
Die Beweiskraft dieser Gottesfreunde war oft wesentlich für die Ausbreitung des Islam. Die Eroberung Bagdads 1258 durch die Mongolen gilt oft als eines der verheerendsten Ereignisse in der muslimischen Geschichte. Aber so wie die dortigen Muslime vor ihrer Auslöschung standen, eroberte ihre Religion die Herzen der wilden Tataren. Langsam, einer nach dem anderen, bezeugten die regierenden Fürsten nach Dschingis Khan ihren Islam. Fürst Tuqluq Timur Khan (gest. 1363) soll seine Annahme einem Heiligen aus Bukhara mit dem Namen Schaikh Dschamal Ad-Din verdankt haben.
Der Historiker T.W. Arnold beschrieb diese Begegnung: „Er betrat mit einer Gruppe von Reisenden nichtsahnend das Jagdrevier des Prinzen. Dieser ordnete an, dass sie ihm an Händen und Füßen gefesselt vorgeführt werden sollten. Als Antwort auf die Frage, wie sie es wagen konnten, seinen Boden zu betreten, bat der Schaikh um Verständnis. Sie seien Fremde und in Unkenntnis darüber gewesen, dass sie verbotenen Boden betreten hätten. Als er erfuhr, dass sie Perser waren, meinte der Fürst, ein Hund sei wertvoller als ein Perser. ‘Ja’, entgegnete der Gelehrte, ‘hätten wir nicht den wahren Glauben, wären wir in der Tat schlimmer als Hunde.’ Beeindruckt von der Antwort befahl der Khan, dass dieser mutige Perser vor ihn gebracht werden sollte, wenn er seine Jagd beendet hatte. Dann erklärte der Schaikh seine Worte und, was ‘Glauben’ sei. Der Schaikh legte ihm die glorreichen Lehren des Islam mit solch Überzeugung dar, dass das Herz des Fürsten, das vorher hart wie Stein war, wie Wachs schmolz. Und der Gelehrte zeichnete ein solch schreckliches Bild des Unglaubens, dass der Fürst von der Blindheit seines Irrtums überzeugt war.“
Schaikh Abu’l-Hassan Ali Nadwi kommentierte diese Begebenheit: „Es ist daher gewiss, dass ein Wort von Dschamal Ad-Din in all seiner Aufrichtigkeit die letzte Ursache der Konversion von Tuqluq Timur und der Ausbreitung des Islam in seinem Herrschaftsgebiet war. Das war eine Leistung, die vielleicht nicht durch tausend Reden oder die Macht der Waffen zustande gekommen wäre.“
Moderne Menschen mögen skeptisch auf solche Geschichten reagieren. Vielleicht liegt es daran, dass wir jegliche Hierarchien in Zweifel ziehen oder dass wir unbewusst einem Szientismus huldigen. Wenn wir aber darüber nachdenken, dass Allah besondere Leute in unser eigenes Leben platziert hat und diese uns positiv beeinflussen, dann ist es nicht schwierig, zu begreifen. Muslime glauben, dass die bloße Gegenwart des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, einen durchschnittlichen Muslim in den Rang eines Prophetengefährten (arab. Sahabi) versetzte. Die Gegenwart eines Sahabi ließ einen Muslim zu einem Nachfolger werden (arab. Tabi’i). Dies setzt sich fort bis zum heutigen Tage.
Imam Zaid Shakir überlieferte folgende Aussage seines Lehrers, Schaikh Mustafa Turkmani: „Eine Person, die einen spirituellen Rang innehat, kann eintausend Menschen beeinflussen. Aber eintausend Leute ohne solchen Rang können nicht einmal eine Person beeinflussen.“
Die Möglichkeit zur Wilaja ist ein solch integraler Bestandteil des muslimischen Glaubens, dass die meisten verbindlichen Texte zur Glaubenslehre auf ihre Bestätigung bestanden. Der bekannte Gelehrte des Rechts und der ‘Aqida aus dem 10. Jahrhundert, Imam Abu Dscha’far Ahmad At-Tahawi (gest. 933), schrieb seine bekannte „Al-’Aqida At-Tahawijja“ (die Glaubenslehre von Imam At-Tahawi). Darin schrieb er: „Wir glauben an die Wunder der Aulija, wie sie von vertrauenswürdigen Überlieferern weitergegeben und überprüft wurden.“ Und der ägyptische Gelehrte Imam Ibrahim Al-Laqqani (gest. 1631) schrieb in einem wichtigen Lehrgedicht über die Glaubenslehre: „Und bestätige die Wunder der Aulija. Und weist die Worte dessen zurück, der sie leugnet.“
Nicht nur sind Heilige integraler Bestandteil des Glaubens, sondern haben die Gelehrten der ‘Aqida immer auf den Glauben an bestätigte Wunder (arab. Karamat) bestanden. Daran ändert auch die Skepsis vormoderner und zeitgenössischer Gelehrter gegenüber dem unkritischen Glauben an bestimmte Ereignisse, die den Gottesfürchtigen zugeschrieben wurden, nichts. Einer meiner Lehrer sagte mir, seine Sorge gelte nicht so sehr den Karamat einer bestimmten Person. Vielmehr gelte sie unserer Unfähigkeit, diese Wunder als Prinzip einer rationalen Annahme oder als Möglichkeit anzuerkennen.
Die Gelehrten bezeichnen die Karamat als Khariq Al-’Ada (das Brechen des natürlichen Verlaufs der Ereignisse). Indem wir die Wunder der Heiligen bestätigen, erkennen wir an, dass Naturgesetze, die wir als gegeben erachten, von Allah erschaffen wurden. Und dass Allah sie brechen kann und die ultimative Macht dazu hat. Mit anderen Worten: Indem wir die Karamat bejahen, bestätigen wir die absolute Herrschaft Allahs.
Der ägyptische Rechtsgelehrte und Weise Ibn ‘Ataillah Al-Iskandari (gest. 1309) schrieb: „Der Unglaube an die Wunder eines Walis ist Unglaube an die Fähigkeit Allahs, des Allmächtigen.“ Gleichermaßen bestand Abu’l-Qasim Al-Quschairi (gest. 1072) auf Allahs vollkommene Kontrolle über die Schöpfung und Seine Fähigkeit, den normalen Verlauf der Natur zu unterbrechen. Laut Quschairi ist das eine Bestätigung der göttlichen Macht.
Natürlich ist die Unterbrechung der Naturgesetze keine Voraussetzung für die Wilaja, noch überhaupt ein Beweis für den göttlichen Faktor. Oft genug haben die Sufis gesagt: „Das größte Wunder ist moralische Rechtschaffenheit.“ Dies ist die Anerkennung, dass das eigentliche Wunder im täglichen aufrichtigen Handeln besteht – entgegen den Neigungen des Selbst. Einer meiner Lehrer beschrieb einen anderen Mann einmal als Wali, weil dieser über dreißig Jahre für eine Moschee arbeitete. Das war für ihn Beweis genug. Wer so lange für eine muslimische Gemeinschaft arbeite, sei eine sehr besondere Person.
Zweifelsohne existieren Rangstufen. Wir lesen im Qur’an über drei Arten von Leuten: die Leute der Rechten (Ashab Al-Jamin), die Leute der Linken (Ashab Asch-Schimal) und die Vorläufer (As-Sabiqun). Die ersten beiden Kategorien sind relativ eindeutig. Erstere sind die Rechtsschaffenden unter den Kindern Adams, die das Buch ihrer Taten mit der rechten Hand empfangen werden. Sie werden in das Paradies eingehen. Die Leute der Linken sind die falsch Handelnden unter den Kindern Adams. Sie werden ihr Buch zur Linken erhalten. Und sie gehören in das Feuer.
Soweit es die dritte Gruppe betrifft (As-Sabiqun), sind dies jene, die Allah zu Sich gebracht hat. Allah lässt uns wissen, dass die meisten von ihnen aus früheren Generationen und nur wenige aus den späteren kommen. Warum hat Allah diese Leute hervorgestellt? Wer waren diese Leute? Und wo lebten sie? Persönlich wiegen mir diese Verse schwer im Herzen. Allah berichtet uns über diese Menschen, aber ich hatte immer das Gefühl, noch keine Person aus dieser Gruppe getroffen zu haben. Ich sehnte mich danach, jemandem von dieser dritten Art zu begegnen, in der Gegenwart eines lebendigen Heiligen zu sitzen.
Ich hörte Berichte von erstaunlichen Leuten und wunderbaren Ereignissen von Lehrern, die die Welt bereisten und entlegene Orte besuchten. Dort saßen sie mit und lernten von Menschen, die sie als Aulija beschrieben. Aber mein moderner Verstand war darauf programmiert, diese Berichte anzuzweifeln. Also bemühte ich mich, die gleichen Reisen zu unternehmen und die gleichen Leute zu treffen. Dank der Gnade Allahs gelang mir dies. Jene Begegnungen bestätigten die Berichte, auch wenn sie nicht zahlreich waren. Allah wird immer Leute auf die Erde setzen, die sich darum bemühen, das höchste menschliche Potenzial zu entfalten.
Diese gleichen wunderbaren Leute lehrten mich, dass Menschen mit einem reinen Herzen erkennen werden, dass der Rang (Maqam) einer jeden Person eine Station der Möglichkeiten ist. Jeder Mensch hat das Potenzial für Wilaja; egal, wann oder wo er lebt. Solche Personen sind nicht auf bedeutungsvolle Orte oder entlegene Dörfer beschränkt. Der wahre Gläubige ist optimistisch, positiv und wird die Möglichkeit zur Schönheit in jedem erkennen.
Ein Freund und Lehrer teilte mir einmal das folgende Prinzip mit, das diese Wirklichkeit enthält: „Wir glauben, dass jede Person unser Meister Al-Khidr ist, und dass jede Nacht die Nacht der Macht ist.“ In anderen Worten, wir kennen nicht die Realität der Menschen, die uns begegnen. Und wir wissen nicht um die Wirklichkeit eines jeden Augenblicks.
Die scheinbar normalste Person auf der Straße könnte ein Wali sein. Und ein recht alltäglicher Moment kann Ausnahmecharakter haben. Die Wirklichkeit ist wie der Moment, an dem unser Meister ‘Umar, möge Allah mit ihm zufrieden sein, auf dem Weg war, um den Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und Frieden geben, zu töten. Es war aber bestimmt, dass er einer der größten Gläubigen werden sollte, die jemals gelebt haben.
Allah kennt die Rechtschaffenen. Und nur Er weiß, wer zu Seinen Freunden gehört. „Aber niemand weiß über die Heerscharen deines Herrn Bescheid außer Ihm.“ (Al-Muddathir, 31)
Die Aulija sind wichtig. Denn alle Menschen müssen daran erinnert werden, dass – inmitten von so viel Schwierigkeiten und Üblem, das die Welt zeigen kann – es immer Individuen geben wird, welche die höchste Möglichkeit des Menschen manifestieren: Allah zu kennen.