Der Islam ist eine Facette des krimtatarischen Widerstands gegen Assimilationsdruck und Repression, damit jedoch auch ein Grund für Verfolgung unter russischer Besatzung.
(iz). Einerseits stärken Krimtataren auf der Halbinsel selbst ihre Resilienz dank ihres Glaubens und ihrer Kultur, andererseits ist diese Strategie auch zum Forschungsthema avanciert: Ein Buch, ein neues Wissenschaftsprojekt und eine Cross-Media-Tournee thematisieren auch diese Facette krimtatarischen Widerstandes.
Angesichts von Annexion, Krieg und Repression sämtlicher öffentlicher Widerstandsressourcen beraubt, ist für viele Muslime der Krim der Islam ein fester Marker im Koordinatensystem ihrer biografischen Landschaften.
Auf der russisch okkupierten Halbinsel Krim werden auch krimtatarische Männer im wehrfähigen Alter zum Dienst in der russischen Armee eingezogen und somit gegen ihre eigentlichen Landsleute in der ukrainischen Armee in den Krieg geschickt.
Um diesem Desaster zu entgehen, aber auch vor Repression und Besatzungsalltag, flüchteten circa 40.000 Krimtataren aus ihrer Heimat in die Festland-Ukraine, in die Türkei, nach Europa und Amerika.

Foto: Sasha Maksymenko, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY 2.0
Für die Krim selbst meldete die NGO Crimean Tatar Resource Center (CTRC) mit Sitz in Kiew für Januar bis September 2025 über 100 Festnahmen und rund 180 Verhaftungen auf der Halbinsel; zugleich nahmen Verfahren wegen „Staatsverrats“ sowie wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ zu.
Demnach hält Russland – Stand Oktober 2025 – 220 Menschen von der Krim widerrechtlich aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen gefangen. Davon sind 133, also mehr als die Hälfte, Krimtataren, darunter immer mehr Frauen.
Laut der Human Rights House Foundation dokumentierte die Crimean Human Rights Group (CHRG) bis Mitte 2025 bereits mindestens 284 politisch motiviert inhaftierte Zivilist*innen aus der Krim; mindestens 109 davon sind im sogenannten „Case of Crimean Muslims“ angeklagt. Diese Zahl zeigt eine weitere Verschärfung gegenüber den Vorjahren.
Sarah Reinke, Geschäftsführerin der Gesellschaft für bedrohte Völker und ausgewiesene Osteuropa-Expertin, konstatiert, dass Krimtataren explizit auch als Muslime verfolgt werden. Die religiöse Erziehung wird immer wieder behindert.
Bei Hausdurchsuchungen durch den russischen Geheimdienst, FSB, liegt der Fokus vor allem auf religiös-islamischer Literatur, und muslimische Gefangene werden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit gezielt schikaniert. In Gefängnissen wurden Koranexemplare in arabischer Sprache beschlagnahmt.
Ein Besatzungsgericht auf der Krim schloss die unabhängige islamische Schule im Bezirk Simferopol. Muslime im Gefängnis Abakan CF-33 durften während des Fastenmonats Ramadan nicht vor Sonnenaufgang frühstücken und nach Sonnenuntergang fastenbrechen. Das mache ihnen das Befolgen des Ramadans unmöglich.
Die jüngsten Fälle von Inhaftierung und Verurteilung machten die unfassbare Atmosphäre der Angst und Repression anschaulich, so die Menschenrechtlerin Reinke: Vier Musliminnen wurden zu langen Haftstrafen verurteilt.
„Morgens gegen vier Uhr stürmten Beamte des russischen Geheimdienstes, FSB, mehrere Häuser und führten Razzien durch. Sie verhafteten vier junge krimtatarische Frauen. Wir sind in größter Sorge um sie. Es handelt sich um gezielte politisch motivierte Festnahmen von Angehörigen des indigenen Volks der Krimtataren.“
Die krimtatarische Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Elmira Muratova (European Center for Migration Issues, Flensburg) untersuchte in den vergangenen Monaten die Rolle des kollektiven Gedächtnisses der Krimtataren in Bezug auf die erste Annexion der Krim 1783 und die Deportation im Jahr 1944 bei der Entwicklung ihrer heutigen Bewältigungsstrategien auf der besetzten Krim.
Muratova identifizierte in ihrer Analyse „Kollektives Gedächtnis, Islam und Bewältigungsstrategien der Krimtataren auf der besetzten Krim“ drei verschiedene Bewältigungsstrategien, die von säkularen und religiösen Gruppen innerhalb der krimtatarischen Gemeinschaft entwickelt wurden und die sich alle um drei Schlüsselinstitutionen gruppieren: Crimean Solidarity, Qaradeñiz Production und die geistige Administration der Krim-Muslime.
Die NGO „Crimean Solidarity“ organisierte sich vor allem aus den Zusammenhängen der ehemaligen Hizb ut-Tahrir, einer kleineren Bewegung unter den Krimtataren, die organisch nicht mit den Parteien in Nahost zusammenhängt.
Die russischen Behörden stellen demnach die Verfolgung von Muslimen als eine Maßnahme zur Terrorismusbekämpfung dar. Die muslimischen Aktivisten der Crimean Solidarity wollen dem russischen Narrativ entgegentreten, dass die krimtatarische Hizb ut-Tahrir als Terroristen abstempelt, und stellen die Verfolgung dieser Gruppe als politisch motiviert dar, die sich gegen die gesamte krimtatarische Gemeinschaft richtet.

Der „Hanife-Şefiqa-Sabriye-Preis für deutsch-krimtatarische Kulturdiplomatie und Publizistik“ ausgelobt von einem krimtatarisch-deutschen NGO-Bündnis (u.a. Gesellschaft für Osteuropa-Förderung + ICATAT) ging diesjährig ertmals an die Cross-Media-Aktivistin Elnara Nuriieva-Letova (hier im Bild mit der krimtatarischen Sängerin Lenara Osmanova im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin, 20.11.2025, Foto: ©ICATAT / Mehmed-Ali-Pascha-Archiv)
Für die Mehrheit der auf der Krim verbliebenen Krimtataren stellt der Islam im Alltag aus Repression und Assimilationsdruck einen identitären Anker dar.
Um dieses Segment der krimtatarischen Identität und Solidarität ginge es sowohl im kürzlich erschienen Buch „Die Krimtataren. Geschichte. Kultur. Politik“ als auch auf der kürzlich beendeten „Cross-Media-Tournee“ mit zwei Dutzend krimtatarischen, deutschen und österreichischen Künstlern, Akademikern und Menschenrechtlern.
Abhebend auf dieses Experten-Netzwerk begann im November ein neues Forschungsprojekt des Instituts für Caucasica-Tatarica- und Turkestan-Studien in Kooperation mit dem Ukrainischen Institut Kiew mit einer Bestandsaufnahme krimtatarischen religiösen und kulturellen Erbes. Qua Digitalisierung, Übersetzung und Katalogisierung im Projekt „AVDET // QAYTARMA. German-Crimean Tatar Cultural Heritage in the Context of Decolonisation, Exile, and Empowerment“ solle angesichts von Repression und Zerstörung explizit auch die islamische Facette des Erbes der Krimtataren gesichert werden.