Die Türkei zwischen nationalem Interesse und Demokratieförderung

(iz). Die geografische Sicherheitslage der Türkei wurde durch die Intensivierung ihres Engagements in benachbarten Regionen, besonders dem Nahen Osten, neu definiert. Der arabische Frühling („das arabische Erwachen“) und nun auch die Syrien-Krise forder(te)n jedoch nicht nur die autoritären Regime, sondern ebenso die türkische außenpolitische Strategie heraus.

Diese Strategie basierte weniger auf dem Prinzip der Demokratieförderung, sondern zielte vielmehr auf wirtschaftliche Kooperation mit existierenden Regimen ab. Die Aufstände in der arabischen Welt kreierten insofern ein Dilemma zwischen einer ethisch ausgelegten Außenpolitik und den nationalen Interessen. Inmitten des Flusses von geopolitischen Restrukturierungen in einer der weltweit instabilsten Regionen versuchen die Eliten der türkischen Außenpolitik neue Strategien zu entwickeln, um dieses Dilemma zu überwinden.

Mit steigendem Eifer regionale Probleme zu lösen und einer sinkenden Sicherheitsorientierung steht die Türkei nun vor zwei Dimensionen: die normative und die realpolitische Dimension der türkischen Außenpolitik.

Die türkische Außenpolitik, die seit dem Regierungsantritt der islamisch konservativen AKP im November 2002 deutlich neue Akzente gesetzt hat, beruht auf dem Konzept des jetzigen Außenministers und wichtigstem Architekten der türkischen Außenpolitik, dem Politologieprofessors Ahmet Davutoğlu. Mit seinen Konzepten der „Strategische(n) Tiefe“ und „Zero-Problem-Politik mit den Nachbarstaaten“ brachte er zum Ausdruck, dass der Wert einer Nation auf ihrer geostrategischen Lage und ihrer historischen Tiefe beruht.

Laut Davutoğlu ist die Türkei mit beiden Gütern ausgestattet. Demnach sei das Land besonders im Hinblick auf ihre historischen und geopolitischen Einflusszonen ein wichtiger internationaler Akteur im Zentrum verschiedenster Regionen: dem Balkan, dem Nahen Osten, Kaukasus, dem kontinentalen Europa, Nordafrika, Südasien und inmitten des Schwarzen-, des Kaspischen Meeres und dem Persischen Golf.

Die Konnotationen der „Strategischen Tiefe“ beinhalten ein verstärktes kooperatives Engagement in ehemals osmanischen Staaten, deren Völker die „Rückkehr“ der Türkei wahrscheinlich willkommen heißen würden – mit besonderem Fokus auf Syrien. Neue Verbündete wie die Schwellenländer China und Indien – oder ehemalig entfremdete Staaten wie Russland und Iran – sollen helfen, die Abhängigkeitswaage der Türkei zum Westen ins Gleichgewicht zu bringen. Ferner soll die Zusammenarbeit mit Russland und Serbien dafür sorgen, dass die Türkei eine intensivere Verantwortung für die Stabilität im Balkan entwickelt.

Die Rolle der Türkei in der muslimischen Welt soll betont werden, und historische Beziehungen zu Afghanistan, Pakistan und sogar Malaysia erneuert und aufgefrischt werden. Während Kritiker der AKP-Regierung aufgrund dieses strategischen Paradigmenwechsels die Abkehr vom Westen und neo-osmanisches Streben nach Vorherrschaft im Osten kritisieren, applaudierten ihre Befürworter den offenen Aktivismus in den Nachbarländern.

Die Türkei, die also jahrzehntelang den Nahen Osten vom Fernen passiv beobachtete, findet sich nun vor den Dynamiken dieser Region und ihren Realitäten wieder. Die heterogenen Resultate des politischen Erdbebens im Nahen Osten brachten sowohl die EU, wie auch die Türkei in Unruhe und zwangen diese zur Erörterung und Umstrukturierung ihrer traditionellen Strategien in der Region. Einige Staaten (wie Tunesien) befinden sich vielmehr in einem Demokratisierungsprozess als wiederum andere, die Formen autoritärer Neugestaltungen vorweisen (Ägypten), während andere sich zurückhaltend in Richtung Reform bewegen (Marokko). Die Zukunft der Staaten Bahrain, Libyen, Syrien oder Jemen bleibt noch ungewiss.

Fest steht jedenfalls, dass eine Rückkehr zum Status quo ante auszuschließen ist. In Anbetracht dessen, dass Syrien bisher als das Aushängeschild/Paradebeispiel des „Null-Probleme mit den Nachbarstaaten“-Konzeptes galt, hat der politische Wandel im Nahen Osten gezeigt, dass die regionale politische Kultur noch fern von Konsolidierungen ist und zweifelsohne mit weniger Stabilität zumindest in der kurzen Frist zu rechnen ist.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben Syrien und die Türkei durch mehrere gegenseitige Abkommen, der Genehmigung von Visa-Erleichterungen und der Verbesserung politischer, ökonomischer und sozialer Beziehungen die Seite langjährigen Streits umgeblättert. Angesichts der Komplexität der Situation, in der sich die Türkei im Zusammenhang mit der syrischen Krise befindet, erscheinen zwei konkurrierende Argumente bezüglich der Haltung Ankaras: Während einige behaupten, dass die türkische Politik sich aggressiv gegenüber dem Assad-Regime unter der Ausnutzung eines humanitären Vorwandes für den Ausbau einer größeren Hebelwirkung im expandierenden regionalen politischen Kalkül verhalte, beschuldigen andere Ankara des Mangels an Entschlossenheit wegen, die eigentlich zur Beendigung der „Brutalität“ des Regimes gegen das eigene Volk, der Türkei zuzumuten wäre.

Der Fall Syrien hat zumindest dafür gesorgt, dass die türkische politische Elite sich ernsthafte Gedanken über den Umgang mit dem Assad-Regime gemacht hat. Analysten, Journalisten und Think Tanks gaben zum Ausdruck, dass die Türkei nicht mehr Seite an Seite mit autoritären Regimen in der Region zusammenarbeiten kann und forderten eine ernsthafte Revision der „Zero-Problems“-These des jetzigen Außenministers.

Die komplizierten und oft missverstandenen Dynamiken hinter der Syrien-Krise wurden in einem Bericht der Internationalen Organisation für strategische Forschung (USAK) angesprochen und bearbeitet. 6 Empfehlungen wurden der Regierung dargelegt:

• Umfassende Kommunikationskanäle mit der syrischen Opposition sollten entwickelt werden, unabhängig von ihrer politischen, konfessionellen oder religiösen Zugehörigkeit.

• Die Türkei solle eine konstruktive Rolle für die Einheit sehr unterschiedlicher Gremien des Syrischen Nationalrates oder der Freien Syrischen Armee spielen.

• Auf ein unilaterales Handeln in jeder Art von militärischer Intervention verzichten, währenddessen aber ein wachsames Auge auf die syrische Krise halten.

• Einer multilateralen und multidimensionalen Strategie folgen, um die Krise zu lösen.

• Jegliche resultierenden Fragmentierungen oder territoriale Spaltungen spielten gegen türkische nationale Interessen. Insofern sollte auf die Bildung einer großen Koalition abgezielt werden, falls sich die internationale Gemeinschaft für eine Intervention entscheidet. Unter keinen Umständen sollte Türkei die Führungsrolle internationaler Truppen gegen Syrien spielen.

• Im öffentlichen Diskurs sollte die Türkei sehr vorsichtig und differenziert mit der Krise umgehen, da die übermäßige Rhetorik dem Ansehen der Türkei in der Region schaden könnte.

Obwohl die Empfehlungen gültig sind, sollte angemerkt werden, dass die Einflusskraft der Türkei sehr beschränkt ist. Sie befindet sich in einer sehr schwierigen Position. Während versucht wird, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen aufrechtzuerhalten, wird Ankara schwierige Entscheidungen treffen müssen. Während eine anhaltende Krise die Türkei dazu drängen wird, ihre militärischen und ökonomischen Mittel zur syrischen Grenze zu mobilisieren, wird eine Verschlechterungen der Beziehungen zum Iran wahrscheinlich zu beträchtlichen wirtschaftlichen Verlusten und einer enormen Belastung der Erdöl- und Erdgaszuflüsse in die Türkei mit sich bringen.

Angesichts der Tatsache, dass die Region ein Knotenpunkt wichtiger globaler Akteure wie Russland, Iran, der EU und den Vereinigten Staaten ist und wir uns in einer bipolaren Struktur als Fragment des Kalten Krieges befinden, steht die Türkei vor einer wichtigen Herausforderung, die weit über „Null-Probleme“ hinaus geht.

Fußnoten und Verweise:
[1] Turkey and the Arab Spring – between Ethics and Self-interest
[2] Hans Seidel Stiftung, Die neue türkische Außenpolitik, http://www.hss.de/politik-bildung/themen/themen-2012/die-neue-tuerkische-aussenpolitik.html
[3] „Perception of Turkey`s foreign policy among the elite of ist neighbours“, Savas Genc, Turkish Review
[4] Understanding Turkey’s Foreign Policy Through Strategic Depth, Joshua W. Walker, Transatlantic Academy
[5] Zehn Jahre AKP, Eine Retrospektive auf Außen-, Innen-, und Kommunalpoltitik, Charlotte Jopien (Hg.), Ludwig Schulz
[6] Turkey and the Arab Spring, Implications for Turkish Foreign Policy from a transatlantic perspective, Foreword, GMF, Nathalie Tocci
[7] Turkish Review, May-June 2012, Syria is not just Syria: The nexus of regional and global powers explained, Isa Afacan (Zirve University)
[8] sie z.B. Ömer Taşpınar, „Zero-Problems With This Syria?“, Today’s Zaman, 25. April 2011
[9] USAK Raporları, No.12-02: “Kapıdaki Kriz Suriye: Uluslararası Yaklaşımlar ve Türkiye için Öneriler” Basın Tanıtım Toplantısı, Türkiye icin öneriler
[10] s. 6