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„Die USA sind ein konservatives Land“

Ausgabe 304

Foto: Gage Skidmore, via flickr | Lizenz: CC-Lizenz

(iz). Klaus Brinkbäumer wurde 1967 in Münster geboren und studierte u.a. in Santa Barbara/Kalifornien. Von 2007 bis 2011 berichtete er für das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL als Korrespondent aus New York. Anschließend war er stellvertretender und von 2015 bis 2018 schließlich Chefredakteur des SPIEGEL. Seit 1. April 2019 berichtet er für die Wochenzeitung DIE ZEIT aus Washington, D.C., wo er mit seiner Familie lebt. Ebenfalls für DIE ZEIT ist er gemeinsam mit Rieke Havertz im wöchentlichen Podcast „Ok, America?“ zu hören. Ende September veröffentlichte er gemeinsam mit Stefan Lamby das Buch „Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe“ (Beck, 391 S. 22,95€). Die Fragen stellte Konstantin Sakkas.

Islamische Zeitung: Herr Brinkbäumer, wer wird am 20. Januar 2021 als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden?

Klaus Brinkbäumer: Wahrscheinlich Joe Biden, vielleicht Donald Trump. Es steht so gut wie fest, dass Biden die Mehrheit der Stimmen im gesamten Land gewinnen wird, aber das genügt ihm nicht, denn das hat Hillary Clinton 2016 auch geschafft: Das amerikanische Wahlrecht sorgt dafür, dass nur wenige umkämpfte Bundesstaaten wie Florida, Michigan, Pennsylvania, Wisconsin entscheidend sein werden. Wer dort mit 50,1:49,9 Prozent gewinnt, bekommt trotzdem 100 Prozent der Wahlleute. Und das kann Trump immer noch gelingen.

Islamische Zeitung: Angenommen, Joe Biden gewinnt die Wahl, aber Trump erkennt seine Niederlage nicht an. Stehen die USA dann vor einem Bürgerkrieg?

Klaus Brinkbäumer: Das Wort ist mir zu wuchtig, aber Trump tut seit Monaten viel für die Erosion der amerikanischen Demokratie. Er hämmert seinen Anhängern ein, dass er und sie nur dann verlieren könnten, wenn die Demokraten mit Wahlbetrug durchkämen. Und er macht diese Demokraten zu Todfeinden, die das Land zerstören wollten.

Islamische Zeitung: Wie gesetzestreu sind das US-amerikanische Militär und seine Führung? Werden sie sich im Falle eines versuchten Staatsstreichs durch Trump gegen ihn stellen?

Klaus Brinkbäumer: Schwer vorherzusagen, weil es um das „Wie“ gehen würde. Spielen wir also zwei theoretische Szenarien durch: A) Biden gewinnt klar, aber Trump und seine Familie räumen das Weiße Haus nicht – dann werden ihn freundliche Beamte oder Soldaten hinausbringen. B) Biden gewinnt knapp, und die Republikaner stehen zu Trump, und der konservative Supreme Court entscheidet über eine Stimmenauszählung in Wisconsin – dann wird das Militär abwarten.

Islamische Zeitung: Und die Geheimdienste?

Klaus Brinkbäumer: Kaum jemand dort schätzt Trump, weil er die Arbeit der Dienste nicht anerkennt. Er liest deren Briefings nicht und hört lieber den Moderatoren von Fox News zu.

Islamische Zeitung: Sie kennen die USA so gut wie wenige andere deutsche Journalisten, haben dort studiert, waren vier Jahre lang SPIEGEL-Korrespondent in New York. Zurzeit schreiben und podcasten Sie für die Wochenzeitung DIE ZEIT aus Washington. Erkennen Sie „Ihre“ USA heute noch wieder?

Klaus Brinkbäumer: Ja, klar, die USA sind so riesig, dass man zu jeder These immer auch die Antithese findet: Es gibt hier Empathie, Klugheit, Weltoffenheit, immer noch, und berauschend schön ist das Land ja nun ohnehin. Traurig ist, wie sehr die Polarisierung und darum die permanente Verdrehung der Wirklichkeit für politische Handlungsunfähigkeit gesorgt haben.

Islamische Zeitung: Wie konnte es sein, dass ein notorischer Lügner wie Trump Oberbefehlshaber der immer noch größten Macht der Erde werden konnte?

Klaus Brinkbäumer: Man unterschätzt ihn leicht, ich auch. Trump hat die Unzufriedenheit vieler Menschen erspürt und in politische Kraft umgewandelt. Eigentlich müssten, traditionell und demographisch gesehen, die Demokraten jenen Menschen im Landesinnern näherstehen, doch die Demokraten haben es zugelassen, als Partei der Eliten und der Großstädte gesehen zu werden.

Islamische Zeitung: Ist Trump in Ihren Augen charismatisch?

Klaus Brinkbäumer: In meine nicht. Ich habe ihn mal besucht und danach die fürchterlich falsche Entscheidung getroffen, nichts darüber zu schreiben, weil ich Trump so schlicht und so plump fand. Die USA aber sind anders als Europa, und auch Charisma definiert sich hier anders: Wenn jemand den Ruf hat, als Geschäftsmann reich geworden zu sein, und dann noch eine eigene Fernsehshow hat, erfüllt er offenbar die Kriterien.

Islamische Zeitung: Ist es wirklich vor allem der „White Trash“, die Abgehängten und Globalisierungsverlierer, die Trump wählen? Oder nicht auch der breite Mittelstand von Geschäftsleuten, das „Wirtschafsbürgertum“? Leute, denen Geschäft vor Moral geht, für die das Leben ein „Dschungel“ ist? Das kann der kleine Kfz-Händler ebenso sein wie der Hedgefonds-Manager.

Klaus Brinkbäumer: Das sind viele, viele Menschen, mutmaßlich ja auch diesmal knappe 60 Millionen. Nicht alle von ihnen mögen und verteidigen Trump, aber Polarisierung bedeutet Lagerbildung, vor allem Abgrenzung: Viele Republikaner eint die Verachtung aller Liberalen. In früheren Zeiten hätten die vielen Skandale diesen Präsidenten längst gestürzt, heute hält das Bollwerk.

Islamische Zeitung: Ist der „Neoliberalismus“ schuld an Trump, wie man vor allem in Deutschland häufig lesen kann? Oder ist Trump nicht eher der Totengräber auch des Wirtschaftsliberalismus‘?

Klaus Brinkbäumer: Zwei Ideologien, wenn wir‘s denn so nennen wollen, haben diesen Präsidenten hervorgebracht: zunächst Rassismus und Xenophobie, Trump hat sich explizit als Rückabwickler der Obama-Jahre angeboten. Und dann ist da die Deregulierung, die Abwesenheit von Regierungshandeln – nach meiner Einschätzung führt dies zur Verwahrlosung ganzer Bundesstaaten, aber die Republikaner halten es für uramerikanische Freiheit.

Islamische Zeitung: Trump gewann auch deshalb 2016 die Wahl, weil er das Ostküsten-Establishment um Hillary Clinton als moralischen Sumpf darstellen konnte, den er trockenlegen würde. Wie sehr verfängt dieses Narrativ heute noch?

Klaus Brinkbäumer: Sehr. Bei seinen Anhängern gilt er noch immer als Rebell, obwohl er seit über dreieinhalb Jahren der Präsident ist. Ob die Wählerinnen und Wähler der entscheidenden Bundesstaaten ihn diesmal für den Zustand des Landes verantwortlich machen oder erneut als Widerstandskämpfer wählen, wird am 03.11. eine der wichtigsten Fragen sein.

Islamische Zeitung: Ist Joe Biden der geeignete Kandidat, um Trump zu schlagen?

Klaus Brinkbäumer: Na ja, ich finde Biden rhetorisch schwach, alt, nicht besonders leidenschaftlich. Aber er stammt aus der Mitte der Partei, und Trumps Reden, dass Biden mit linksextremer Politik das Land in die Anarchie stürzen werde, zünden deshalb nicht. Biden wird gewinnen, wenn er alle potenziellen Wählergruppen seiner Partei mobilisieren kann. Ich bin da skeptisch, aber wissen kann man‘s noch nicht.

Islamische Zeitung: Biden wäre der erste Katholik seit Kennedy und erst der zweite Katholik überhaupt im Präsidentenamt. Spielt die Konfession bei den US-Wahlen noch eine Rolle, und welche?

Klaus Brinkbäumer: Die USA sind ein konservatives Land, das sich über soziale Themen wie Abtreibung oder Homosexualität immer wieder neu zerstreitet – Religion spielt dabei stets eine zentrale Rolle. Um Präsident zu werden, muss man in den USA nicht tiefgläubig sein, aber ohne die Unterstützung der Evangelikalen wäre Trump nicht Präsident.

Islamische Zeitung: In Brasilien beispielsweise gilt der Katholizismus eher als links, der Evangelikalismus Bolsonaros als rechts. Ist das in den USA ähnlich? Welche Rolle spielt der Katholizismus Bidens für die Millionen Hispanics?

Klaus Brinkbäumer: Eine enorme. Gerade diese Latinos, wie sie hier heißen, fühlen sich aber von Biden derzeit vernachlässigt – die Black Lives Matter-Bewegung führt dazu, dass Biden die Afroamerikaner umwirbt und zugleich dem weißen Amerika der Vorstädte sagt, dass er es nicht verraten werde. Die Latinos kommen im Wahlkampf kaum vor.

Islamische Zeitung: Trump ist auch innerhalb der republikanischen Partei hochumstritten, siehe das Lincoln Project. Wie ist das Stimmungsbild bei den Republikanern bzw. bei deren Führung vor der Wahl? Hofft man dort heimlich auf eine Niederlage?

Klaus Brinkbäumer: Nein, die Partei hat sich festgelegt, das ist nun ein Trump-Kult. Alle Abweichler werden bekämpft.

Islamische Zeitung: Die US-amerikanische Gesellschaft war schon immer polarisiert, spätestens seit dem Sezessionskrieg. Der Kalte Krieg und dann der Krieg gegen den Terror konnten das Land, scheint es, immer wieder zusammenhalten, das, was die Historikerin Jill Lepore den „liberalen Nationalismus“ der USA nennt. In Zeiten der Multipolarität heute fällt dieser Kitt, scheint es, weg.

Klaus Brinkbäumer: Ja, das stimmt. Auch COVID-19 eint die Nation nicht mehr, spaltet sie nur noch tiefer. Die heutige Polarisierung verlangt nach permanenter Positionierung und Abgrenzung, die gemeinsamen Grundlagen der zwei Amerikas sind minimal geworden.

Islamische Zeitung: Die politische Kultur in den USA lebt von Heldenerzählungen. Außenpolitischen wie dem Kampf gegen Faschismus und Kommunismus, innenpolitischen wie Roosevelts New Deal oder der Great Society Lyndon B. Johnsons. Fehlt den USA heute die verbindende Heldenerzählung?

Ja, denn Heldenerzählungen wie jene des Silicon Valley werden anderswo im Land zu Verlierergeschichten. Die soziale Ungerechtigkeit ist zu groß geworden.

Islamische Zeitung: Was ist mit China? Hier böte sich doch ein Gegner an. Die Kommunistische Partei Chinas operiert nach außen imperialistisch, nach innen mit brutaler Repression. Könnten sich konservative und linke Amerikaner hier nicht wiederfinden?

Klaus Brinkbäumer: Bislang nicht, nein. Jedes außenpolitische Thema wird sofort Teil der innenpolitischen Kriegsführung. Selbst Putins Russland wird von den Republikanern geschont, weil sie dadurch den Präsidenten schützen.

Islamische Zeitung: Der Historiker Niall Ferguson hat Trump neulich in der Neuen Zürcher Zeitung dafür gelobt, keinen Krieg angefangen zu haben, nicht „Weltpolizist“ zu spielen. Was antworten Sie ihm?

Klaus Brinkbäumer: Der Text ist mir entgangen, darum eher allgemein: In ein Vakuum, das die USA hinterlassen, stoßen sofort Russland und China hinein; ob dies für unsere Welt gesünder ist? Die Aufkündigung diverser Abkommen durch die USA wirkt ja gewiss destabilisierend; und die Begeisterung der gegenwärtigen US-Regierung für Diktaturen und die Attacken auf Bündnispartner wie Deutschland oder Kanada tun dies auch.

Islamische Zeitung: Wie hoch veranschlagen Sie den persönlichen Einfluss Russlands und vielleicht auch Chinas auf die US-Politik und auf Donald Trump persönlich?

Klaus Brinkbäumer: Recht hoch. Russlands Eingriff in die Wahl von 2016, Trumps Nähe zu Putin und die Russland-Ermittlungen Robert Muellers haben die gesamte erste Amtszeit geprägt – bis Corona kam und China im Zentrum war.

Islamische Zeitung: Dass die USA ein gespaltenes Land seien, ist eine Binsenweisheit. Hier die urbane, liberale Ost- und Westküste, dort die ruralen, reaktionären „Fly-Over-States“ im Mittleren Westen und Süden. Hat Trump nur eine Spaltung verstärkt, die ohnehin schon besteht?

Klaus Brinkbäumer: Er hat sie für sich genutzt und dann verstärkt. Das gab es jedenfalls lange nicht, dass ein Präsident selbst nach seiner Wahl nicht versöhnen und vereinen wollte. Trump braucht permanente Wut und Aggression.

Islamische Zeitung: Sehen Sie Parallelen zu Deutschland? Ein bekannter deutscher Publizist sagte mir vor einigen Jahren nur halb im Scherz, wir hätten in Deutschland ja schon einen „Pegida-Freistaat“ im Osten. Er spielte auf die Stärke der AfD und Neuen Rechten in Ostdeutschland an.

Klaus Brinkbäumer: Natürlich gibt es Parallelen, aber bislang gibt es auch wichtige Unterschiede. Wissenschaft und Medien werden zwar auch in Deutschland angegriffen, aber nicht als „enemy of the people“ von der Kanzlerin verdammt. Das dominierende Medium ist nicht ein hetzendes Fox News – wir haben einen robusten und präzise arbeitenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Islamische Zeitung: Sehen Sie das Risiko einer neuen, diesmal erfolgreichen Sezession? Einer Aufteilung der USA in die erwähnten Küstengebiete einerseits und das Land dazwischen andererseits? Die Sanctuary Cities etwa, in denen Immigranten ohne Aufenthaltserlaubnis sicher leben können, praktizieren ja schon eine Art Sonderrecht.

Klaus Brinkbäumer: Nein, bisher sehe ich das Risiko nicht.

Islamische Zeitung: Welchen Schaden hat Trump der transatlantischen Partnerschaft zugefügt? Es gab immer Antiamerikanismus in Europa, und zwar in Frankreich und Deutschland ebenso wie bspw. in Griechenland. Ist die NATO in Gefahr?

Klaus Brinkbäumer: Der Schaden ist gewaltig, da das Vertrauen zerstört ist. Die USA gelten nicht mehr als verlässlich; und dass sie Deutschland wie einen Feind behandeln, aber mit Diktaturen kuscheln, versteht im Auswärtigen Amt noch immer niemand. In der internationalen Politik müssen geschlossene Verträge Bestand haben, und eine neue Regierung muss übernehmen, was ihre Vorgänger zugesagt haben – anders funktioniert Außenpolitik nicht.

Islamische Zeitung: Viele Linke wie Rechte in Deutschland wie in ganz Europa würden sich über ein Zerbrechen der NATO die Hände reiben.

Klaus Brinkbäumer: Die Republikaner ermöglichen zwar Trump und Verletzungen demokratischer Institutionen, aber sie wollen die NATO erhalten.

Islamische Zeitung: Welche drei Ratschläge würden Sie einem Präsidenten Joe Biden zu seiner Amtseinführung geben?

Klaus Brinkbäumer: Der hört schon jetzt nicht auf mich, sonst würde er viel offensiver Wahlkampf machen. Würde Biden auf mich hören, würde ich ihm die eilige Reparatur von Bündnissen empfehlen: Die großen amerikanischen Themen, COVID-19, Klima, Migration, Drogen-Epidemie, lassen sich ja nur multilateral angehen.

Islamische Zeitung: Bleiben Sie ein Freund der USA, auch wenn Trump wiedergewählt werden sollte?

Klaus Brinkbäumer: Mehr als das, es ist Liebe.

Islamische Zeitung: Eine persönliche Frage: Sie waren 2015 bis 2018 Chefredakteur des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL. Können Sie sich vorstellen, wieder eine Führungsaufgabe in einem deutschen Medienhaus zu übernehmen?

Klaus Brinkbäumer: Ja. Meine Familie und ich kehren in diesem Winter nach Deutschland zurück, etwas Neues kann beginnen.

Islamische Zeitung: Zum Schluss ein Blick in die Glaskugel: die nächste US-Präsidentschaftswahl steht 2024 an. Die linke demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez wird dann genau 35 Jahre alt sein, das Mindestalter fürs Präsidentenamt. Wird sie die erste Präsidentin der USA werden?

Klaus Brinkbäumer: Nein. AOC, wie sie hier genannt wird, braucht etwas mehr Zeit; sie ist sehr, sehr gut, gilt aber noch als zu liberal, new-yorkerisch, links, um im Landesinnern gewinnen zu können. Die erste Präsidentin wird sowieso Kamala Harris.