Interview: Die Medizinerin Dr. Hatun Karakaş arbeitet nicht nur seit Jahren als Ärztin. Sie engagiert sich auch aktiv auf sozialen Netzwerken für die gesundheitliche Aufklärung.
(iz). Dr. Hatun Karakaş ist Fachärztin für Innere Medizin und eine der Stimmen, die nicht nur in der ambulanten Praxis, sondern ebenfalls in sozialen Netzwerken für ein ganzheitliches Verständnis von Wohlbefinden arbeitet.
Insbesondere mit ihrer digitalen Präsenz hat sie viele PatientInnen und Follower gefunden. Ihre Biografie ist geprägt von Migration, Durchhaltevermögen und dem Anspruch, Wissen aus islamischer und medizinischer Perspektive zu vermitteln.
Dr. Hatun Karakaş: „Insbesondere geht es mir seit fünf Jahren um die Verknüpfung von Islam und Medizin.“
Islamische Zeitung: Liebe Frau Dr. Hatun Karakas, könnten Sie sich unserem Publikum vorstellen?
Dr. Hatun Karakaş: Ich bin Fachärztin für Innere Medizin, war aber schon vorher für 20 Jahre als Gesundheits- und Krankenpflegerin im Gesundheitswesen tätig. Währenddessen habe ich studiert und bin Ärztin geworden. Nun arbeite ich im ambulanten Bereich und werde dort bleiben.
Zusätzlich bin ich seit sieben Jahren in sozialen Medien tätig. Und habe da eine Lücke gesehen, weil es in der muslimischen und migrantischen Community hier einen Aufklärungsbedarf gibt. Das fing mit Instagram an und setzt sich jetzt auch auf YouTube fort.
Insbesondere geht es mir seit fünf Jahren um die Verknüpfung von Islam und Medizin; ein Thema, das mich schon länger beschäftigt. Mittlerweile betreibe ich einen Webshop, wo ich u.a. Schwarzkümmelöl vertreibe. Das ist ein Aspekt, mit dem ich mich aus wissenschaftlicher Perspektive beschäftige. Zuvor wurde ich von vielen nach verlässlichen Quellen für Produkt angesprochen.

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„Dennoch habe ich mir und anderen bewiesen, dass ich ein kämpferischer Typ bin.“
Islamische Zeitung: Ihre Familiengeschichte ist durch Migration geprägt. Hat das Ihr Studium und Ihren Berufsweg beeinflusst?
Dr. Hatun Karakaş: Angefangen hat alles mit meinem Vater. Er war ein Gelehrter, der den Islam studierte und als Imam nach Deutschland kam. Wissen war ihm stets wichtig.
Ich selbst bin Schule und Studium zunächst mit eigener Motivation angegangen, merkte aber bald, dass mich dieses Feld zunehmend faszinierte und ich dort mehr erreichen wollte. Der Schritt in die Wissenschaft war letztlich meine Entscheidung. Später, als mein Vater das Potenzial erkannte, unterstützte er mich dabei.
Wir waren eine einkommensschwache Familie, und erst im Nachhinein erfuhr ich, wie viele der Altersgenossen bspw. Nachhilfeunterricht erhielten. Einen großen Teil des Weges habe ich – auch unter dem Druck von Benachteiligung und Diskriminierung – eigenständig bewältigt.
Später, während meiner Arbeit als Krankenschwester wie im Medizinstudium, habe ich in unterschiedlichem Maße Benachteiligung, Diskriminierung und Rassismus erlebt. Diese Erfahrungen stellten zweifellos erhebliche Hürden dar und haben den Weg nicht erleichtert. Dennoch habe ich mir und anderen bewiesen, dass ich ein kämpferischer Typ bin, mich nicht unterkriegen lasse, indem ich meine Rechte eingefordert habe. Es kostet Kraft, insbesondere wenn man sieht, wie unkompliziert es für andere oft ist.
Was mich auszeichnete, war u.a. mein Fleiß und dass ich nie aufgegeben habe. Diese Erfahrungen, der erlebte Rassismus und Diskriminierung haben mich zu der Persönlichkeit gemacht, die ich heute bin.
„Und hier liegt das Problem am System: Seine Beteiligten werden ausgebeutet.“
Islamische Zeitung: Seit Jahrzehnten wird heftig über den Zustand des deutschen Gesundheitssystems gestritten. Sie sind seit Längerem dort tätig. Wie erfahren Sie dessen Lage in Ihrem Alltag?
Dr. Hatun Karakaş: Ich fing 2005 als Fachkraft an. Da war es nicht so alarmierend wie heute. Ich kann mich erinnern, wie wir als Pflegekräfte in richtigen Vorstellungsgesprächen ausgewählt wurden. Die meisten in der Ausbildung waren Abiturienten – im Vergleich ein hohes Niveau.
Es arbeitete deutlich mehr Personal, das mit der Zeit stetig abgebaut wurde. Das ist ein großes Problem. Der Wandel vollzog sich zwischen der Arbeit als Krankenschwester und dem Medizinstudium. Und hat sich bemerkbar gemacht: die doppelte Menge der Patienten. Letztlich war ich froh über den Übergang, denn Pflege ist ein Knochenjob.
Als Klinikärzte hatten wir es später ebenfalls nicht besser. Es war normal, wenn man eine Station von 18-21 Kranken betreuen musste. Das war schon belastend. Zumal nicht jeder Tag dort alltäglich verläuft. Das heißt, es kommt immer wieder zu Notfällen. Man stößt dabei an körperliche und psychische Grenzen. Ein Grund, warum viele dem Krankenhaus den Rücken kehren.
Neben dem Personalabbau im Gesundheitswesen gibt es Probleme wegen seiner Privatisierung. Natürlich sind die Personalkosten hoch, aber so geht es definitiv nicht, will man verhindern, dass Menschen zu Schaden kommen. Überall kommt es dort zu Fehlern – zu bewussten oder unbewussten.
Hier werden unzählige Überstunden geleistet. Als ich das Krankenhaus verließ, hatte ich 300 angehäuft. Als Ärztin steht man vor dem Dilemma, rechtzeitig nach Hause zu kommen und einen Berg Unerledigtes zu hinterlassen, wodurch Patienten benachteiligt werden. Ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, die Arbeit nur halbfertig zu übergeben.
Und hier liegt das Problem am System: Seine Beteiligten werden ausgebeutet. Die Kliniken wollen neues Personal einstellen. Nur hat dieser Beruf in Presse und sozialen Medien seinen einstigen, beliebten Ruf verloren.
Obwohl Gehälter im Vergleich zu früher deutlich besser sind, sind sie weiterhin nicht gut genug. Das hat sich in der Pandemie massiv bemerkbar gemacht. Durch die vielen Erkrankungen mussten wir unzählige Patienten betreuen.

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„In der stationären Tätigkeit habe ich mich bemüht, spezifische kulturelle und religiöse Werte anzuwenden.“
Islamische Zeitung: Haben Sie als Muslimin eine andere Herangehensweise an Fragen wie Krankheit und Gesundheit. Wenn ja, wie sieht dieses aus?
Dr. Hatun Karakaş: Im Großen und Ganzen handelte ich erst einmal als Medizinerin, d.h. als Expertin. Es gibt gewisse Bereiche, für die ich mich seit dem Studium interessiere. Das ist die Schnittmenge von Islam und Medizin. Wo liegen Parallelen? Warum wird Schwarzkümmelöl so gelobt? Können wir es wissenschaftlich erklären?
Aspekte der „islamischen Medizin“ wie Honig, Schwarzkümmel, das Schröpfen, Gebet oder Dhikr sind spirituell und gleichzeitig ärztlich. In meinen Augen sind sie eine Ergänzung. Im Krankenhaus habe ich sie nicht eingesetzt. Jetzt, in den sozialen Medien, im privaten Umfeld sowie der ambulanten Praxis, suchen viele mich als muslimische Ärztin auf, wo sich diese Komponenten nutzen lassen. Dhikr bspw. kann bei der psychischen Gesundheit helfen.
An dieser Methode schätze ich, dass sie sich mit etwas beschäftigt, was der moderne Berufsalltag stark vernachlässigt: eine ganzheitliche Perspektive. Ich bemühe mich darum, Körper, Geist und Seele als gleich bedeutsam anzusehen und das in die Arbeit einfließen zu lassen. Sobald ich nächstes Jahr meine Praxis eröffne, möchte ich das verstärkt in mein Angebot aufzunehmen.
In der stationären Tätigkeit habe ich mich bemüht, spezifische kulturelle und religiöse Werte anzuwenden. Dazu gehört bspw. Geduld im Umgang mit Patienten und Angehörigen. Allerdings ist die Wertschätzung des je Einzelnen ungeachtet seiner Herkunft schwierig im bestehenden Gesundheitswesen.
Islamische Zeitung: Muslime in Deutschland sind ebenfalls Patienten. Haben diese spezifische Probleme und Herausforderungen im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung? Und ist das Gesundheitssystem derzeit in der Lage, darauf einzugehen?
Dr. Hatun Karakaş: Angesichts der Tatsache von Millionen Muslimen im Land findet Benachteiligung statt. Bei vielen Patienten bspw. wird zu wenig Zeit für Aufklärung bereitgestellt. Ich habe das Gefühl, dass sie als Muslime und Mitbürger zu kurz kommen.
Gelegentlich gelten sie gar als Problemfaktor: Wenn plötzlich einige Angehörige zum Krankenbesuch eintreffen oder eine Patientin das Kopftuch nicht ausziehen möchte. Unterschiede gibt es im Umgang mit dem Sterben und entstehenden Emotionen der Familie. Damit kommt das derzeitige Gesundheitssystem nicht gut zurecht.
Ich beschäftige mich mit Rassismus und Diskriminierung in der Medizin. Das ist ein Thema, das durch Studien bestätigt wurde, nicht nur durch jahrelange Erfahrungsberichte. Und ich würde so weit gehen und sagen, dass hierdurch Menschen real zu Schaden kommen – durch zu späte Diagnosen oder Stigmatisierung in Notfallsituationen. Sie haben ebenso weniger Zugang zu Vorsorge.
„Es gibt teilweise Erkrankungen, die gehäuft vorkommen.“
Islamische Zeitung: Wie sieht es mit gesonderten gesundheitlichen Problemen aus? In Großbritannien bspw. sind sie in höherem Maße von Herzkreislauferkrankungen oder Diabetes betroffen…
Dr. Hatun Karakaş: Diesen Punkt kann ich bestätigen. Es gibt teilweise Erkrankungen, die gehäuft vorkommen. Beide Krankheiten sieht man nicht nur in der pakistanischen Community in England, sondern ebenso bei Türken und Marokkanern in Deutschland.
Ich merke im Alltag, dass vielen das Ausmaß der Krankheiten für ihr Leben nicht bewusst ist, welche Komplikationen drohen und warum sie eine Lebensumstellung brauchen. Wie will man jemanden, der seit 40-50 Jahren Weißbrot isst oder täglich Reis zu seinen Mahlzeiten isst, dazu anhalten, die Ernährung umzustellen? Hierfür sind nicht alle bereit.
Ich glaube allerdings schon, dass man mit guter Aufklärungsarbeit einiges erreichen kann. Aus ärztlicher Sicht gehören bspw. wegen Zucker und Kreislauferkrankungen Dinge wie mehr Bewegung dazu. Das wären leichte Änderungen wie tägliche Spaziergänge, was in unseren Communitys kaum verbreitet ist.
Hierbei handelt es sich um einfache Schritte wie einen Weg per Fahrrad oder zu Fuß zu nehmen. Der Hauptteil der nötigen Umstellung betrifft Ernährung. Hinzukommt Rauchen, das einen erheblichen Teil der türkisch-kurdischen Gemeinschaften trifft.
Islamische Zeitung: Das Internet ist voller seltsamer Ansichten zum Thema Gesundheit – von unfreiwillig komischen Vorstellungen bis hin zu gefährlichen. Wie wichtig ist für Sie das Engagement auf den sozialen Plattformen?
Dr. Hatun Karakaş: Es ist unerlässlich. Gerade unsere Communitys sind anfällig dafür, weil sie wegen Diskriminierung und Rassismus schlechte Erfahrungen im Gesundheitswesen gemacht haben. In dieser Distanz wachsen Einstellungen wie „die Ärzte verdienen nur an uns“ oder „die Pharmaindustrie lebt von Erkrankungen“ umso leichter.
Das ist einer der Gründe, warum ich mich für Engagement in sozialen Medien entschieden habe. Und ich sehe als muslimische Ärztin, dass Leute, die solche falschen Aussagen verbreiten, hier lauter sind und häufiger geteilt werden.
Deswegen bekommen Mediziner wie wir, die hier aufklären, im Netz Gegenwind – das war stark zu spüren in der Corona-Pandemie. Damals habe ich mich in der Community für mehr Informationen starkgemacht, was zu Angriffen von einigen Seiten mit muslimischem Hintergrund führte.
Das macht was mit einem. Viele, die hier für Vernunft werben, sind häufig mit Hatern konfrontiert. Sowas nimmt einem die Lust und kostet enorm Energie. Das spiegelt sich in der Reichweite und den Followern wider. Die kommen schon mal auf eine Million, während Seiten wie meine, auf der zum Thema mit Fakten argumentiert wird, möglicherweise auf 60-70.000 kommen.
Niemand filtert hier. Interessanterweise ziehen sie damit nicht nur ein gering informiertes Publikum an, sondern werden zusätzlich von ignoranten Personen betrieben, die sich bspw. unqualifiziert als „Coaches“ bezeichnen können. Das gilt nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern genauso psychische Fragen.
Das Problem ist: Ohne Hintergrundwissen mag es vernünftig erscheinen, was da erzählt wird. Meine Follower schicken mir regelmäßige Beiträge zu solchen, weil sie hierzu von mir Aufklärung möchten.

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„Aus islamischer Sicht wissen wir, was für ein Geschenk dieses Wohlbefinden ist.“
Islamische Zeitung: Abschließend gefragt, und es mag seltsam klingen, es ist nicht immer einfach, eine Definition von Gesundheit und Krankheit zu bekommen. Wie würden Sie die beiden definieren?
Dr. Hatun Karakaş: Unser Gesundheitssystem baut interessanterweise nicht auf Gesundheit, sondern Erkrankungen auf. Menschen kommen mit Problemen zu uns. Wir stellen eine Diagnose und versuchen, sie zu behandeln.
Es fing erst in den 1980er Jahren an, dass man die Themen Prävention und Erhaltung von Wohlbefinden mit in den Blick nimmt. Aber weiterhin arbeiten wir zu wenig an ihr. Aktivitäten auf diesem Gebiet werden immer noch nicht in großem Maße finanziert. Politik und Kassen haben gesundheitsfördernde Maßnahmen und Tätigkeiten nicht ausreichend im Blick.
Auch deswegen haben manche Mediziner Schwierigkeiten mit einer positiven Definition. Ich habe mich auf eine ganzheitliche Perspektive fokussiert. Nicht umsonst waren Muslime dabei Vorreiter. Gesundheit bedeutet daher bspw. nicht bloß körperliche, sondern ebenso psychische, geistige und soziale Stabilität.
Aus islamischer Sicht wissen wir, was für ein Geschenk dieses Wohlbefinden ist. In einer prophetischen Aussage heißt es sinngemäß, dass dem Menschen nach dem Iman nichts Besseres gegeben wurde als Wohlbefinden. Sie spielt insbesondere für uns eine große Rolle.
Deshalb müssen wir stark an ihrem Erhalt bzw. ihrer Wiederherstellung arbeiten. Hier hat sich einiges getan. Man merkt an der jüngeren Generation, dass sie sich mit Ernährung und Bewegung beschäftigt – mit viel Luft nach oben.
Islamische Zeitung: Liebe Frau Dr. Hatun, wir bedanken uns herzlich für das Gespräch.