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Ein zerbrechliches Projekt: Zukunft der EU ist keine Selbstverständlichkeit

Ausgabe 323

Foto: Denys Radyi, Adobe Stock

(iz). Die europäischen Zivilgesellschaften sind in den letzten Jahren zu großen Stressgemeinschaften (Sloterdijk) zusammengewachsen. Das europäische Projekt zeigt sich dabei in seiner ganzen Zerbrechlichkeit.

Die letzte große Krise, die Pandemie, gerät in der aktuellen Nachrichtenlage immer mehr in den Hintergrund. Ein lesenswertes Buch von Manfred Osten – Die Welt ein großes Hospital – versucht sich an einer Einordnung der Krise in größere Zusammenhänge. Vor über 230 Jahren hatte Herder über den „schönen Traumwunsch der Menschheit“ philosophiert. Goethe stellt dem in einem Brief an Charlotte von Stein eine abgründige Vision entgegen, dass nämlich „zur gleichen Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des anderen Krankenwärter werden wird.“

Die Pandemie sieht Osten nicht als einmalige Episode an, sondern rückt sie in den Zusammenhang mit dem europäischen Drang zur Naturbeherrschung und der Ausbeutung der Ressourcen, die die Globalisierung bisher prägt. Goethe setzte auf das geistige Immunsystem des Menschen: „Nur durch Mäßigung erhalten wir uns.“ Die wundersame Geldvermehrung, ein wichtiges Thema im Faust II, ist eines der Symbole moderner Maßlosigkeit.

Die Antwort Europas auf die Krisen dieser Zeit besteht heute in der scheinbar einfachen Lösung, immer mehr Geld zu drucken. Dieser Reflex begleitet auch den Krieg der Ukraine. Alleine Deutschland reagiert auf die geopolitische Zeitenwende mit der Aufrüstung der Bundeswehr und mit einem Volumen von 100 Milliarden Euros in Form neuer Schulden. Gleichzeitig verstärken sich in vielen europäischen Ländern die sozialen Spannungen durch die Inflation und steigende Energiepreise.

Immerhin, die Wahlen in Frankreich und – trotz hoher Zugewinne von Stimmen – die Niederlage der Rechtsextremen verschaffen dem europäischen Projekt eine wenig Zeit. Der Rückfall Frankreichs in den Nationalismus hätte das europäische Projekt endgültig vor eine Zerreißprobe gestellt. Die Zukunft Europas hängt nun von dem heiklen Übergang von Konsum- zu Verzichtsgesellschaften ab.

Gesucht wird eine geistiges Vision, die der Mäßigung, die seit Goethe im Raum steht, eine Grundlage gibt und gleichzeitig den Rückfall in Kleinstaaterei verhindert. Die Lage in der Ukraine erinnert auch daran, dass die Idee einer gemeinsamen EU-Außenpolitik noch in den Kinderschuhen steckt. Der Frieden in der Region wird in erster Linie von den Interessen der Amerikaner abhängen und letztlich in Gesprächen zwischen Washington und Moskau ausgehandelt werden.

Trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen sind die Muslime Europas an einem guten Ausgang der europäischen Einigung interessiert. Nur auf diesem Wege ist der Frieden im Innern und Äußern erreichbar und die Existenz der Muslime in den europäischen Zivilgesellschaften auf Dauer denkbar.