
In einem Feature über die „Todeszone“ Gaza weist die israelische „Haaretz“ die willentliche Ermordung verhungernder Zivilisten nach.
(iz, dpa). Ein Investigativbericht der Tageszeitung „Haaretz“ beleuchtet die Praxis der IDF´ im Gazastreifen, gezielt auf unbewaffnete Palästinenser zu schießen, die an Hilfsverteilungsstellen auf Lebensmittel warten.
Zahlreiche Soldaten und Offiziere schildern im Text mit eigenen Worten, dass sie von ihren Befehlshabern explizit den Befehl erhielten, auf Menschenmengen zu feuern, um sie zu vertreiben – selbst wenn keinerlei Bedrohung von diesen ausging.
Der Bericht zeichnet ein Bild von systematischen, tödlichen Angriffen auf unbewaffnete Menschen an Hilfsverteilungsstellen im Gazastreifen, die von Kommandeuren angeordnet und den Truppen ausgeführt werden. Die Schilderungen der Soldaten und Offiziere offenbaren eine Erosion ethischer Standards und eine Normalisierung von Gewalt gegen Zivilisten.
Die Rechercheergebnisse der Zeitung schlugen in Tel Aviv hohe Wellen. Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Katz bezeichneten ihn in einer gemeinsamen Erklärung als „böswillige Lüge“.
Diese würde nur dazu dienen, um „die moralischste Armee der Welt zu diffamieren“. Frühere Vorwürfe, das Militär würde willkürlich auf Palästinenser im Umfeld der GHF-Zentren schießen, hatte die Armeeführung mit dem Argument zurückgewiesen, dass in allen diesen Fällen für die betroffenen Soldaten eine Bedrohung geherrscht habe.
Todeszone Gaza: gezielte Schüsse auf Nichtkombattanten
Seit Ende Mai 2024 betreibt die von Israel initiierte Gaza Humanitarian Foundation (GHF), unterstützt von US-Evangelikalen und privaten Sicherheitsfirmen, vier sogenannte „Rapid Distribution Centers“ für Nahrungsmittel im südlichen und zentralen Gazastreifen.
Täglich versammeln sich dort Tausende, oft Zehntausende Palästinenser, um Lebensmittel zu erhalten. Die Verteilung ist chaotisch, die Menschen drängen zu den Vorräten. Die IDF sichert die Verteilzentren aus mehreren hundert Metern Entfernung.
„Haaretz“ dokumentiert mindestens 19 Vorfälle in ihrer Nähe. Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums in Gaza wurden seit dem 27. Mai auf jeden Fall 549 Menschen dabei ermordet und über 4.000 verletzt. Die genaue Zahl der durch das Feuer Getöteten bleibt unklar.
Foto: Israeli Defence Forces Spokesperson’s Unit, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0
Aussagen von Soldaten: „Es ist ein Schlachtfeld“
Ein Armeeangehöriger beschrieb die Lage so: „Es ist ein Schlachtfeld. Wo ich stationiert war, wurden täglich zwischen einem und fünf Menschen getötet. Sie werden wie eine feindliche Kraft behandelt – keine Mittel zur Kontrolle von Menschenmengen, kein Tränengas, nur scharfe Munition mit allem, was man sich vorstellen kann: schwere Maschinengewehre, Granatwerfer, Mörser. Dann, sobald das Zentrum öffnet, hört das Schießen auf und sie wissen, dass sie sich nähern können. Unsere Art der Kommunikation ist Feuer.“
Ein anderer Soldat ergänzt: „Wir eröffnen früh morgens das Feuer, wenn jemand versucht, sich aus ein paar hundert Metern Entfernung anzustellen, und manchmal stürmen wir sie auch aus nächster Nähe. Aber es besteht keine Gefahr für die Truppen. Ich kenne keinen einzigen Fall von Gegenfeuer. Es gibt keinen Feind, keine Waffen.“
Kaum Ermittlungen oder Transparenz
Die IDF lässt laut „Haaretz“ keine Aufnahmen von den Vorgängen an den Verteilzentren zu. Offiziere berichten, dass die Armee mit dem Betrieb der GHF-Zentren vor allem einen völligen Zusammenbruch der internationalen Legitimität für den Krieg verhindern wolle. Ein Reservist fasst zusammen:
„Gaza interessiert niemanden mehr. Es ist ein Ort mit eigenen Regeln geworden. Der Verlust von Menschenleben bedeutet nichts mehr. Es ist nicht einmal mehr ein ‘bedauerlicher Vorfall’, wie man früher sagte.“
Obwohl die Militärstaatsanwaltschaft eine Überprüfung möglicher Kriegsverbrechen angeordnet hat, bleibt die Untersuchung nach Angaben der Zeitung lückenhaft. Die meisten Vorfälle werden nicht gründlich untersucht, Disziplinarmaßnahmen gegen Offiziere bleiben aus – trotz klarer Verstöße gegen IDF-Befehle und das Kriegsrecht.
Kommandeure und PMCs
Besonders häufig wird Brigadegeneral Yehuda Vach, Befehlshaber der Division 252, als Verantwortlicher für die Schießbefehle genannt. Ein Offizier berichtet:
„Das ist Vachs Politik, aber viele Kommandeure und Soldaten haben sie ohne Frage akzeptiert. Die Palästinenser sollen nicht dort sein, also ist die Idee, sie zu vertreiben – selbst wenn sie nur wegen des Essens dort sind.“
Private Dienstleister (PMCs), die mit dem Abriss von Häusern beauftragt sind, agieren laut Aussagen wie „Sheriffs“ und werden von der IDF geschützt. Ihre Nähe zu den Verteilzentren führt immer wieder zu Schusswechseln, bei denen Zivilisten getötet werden. Ein Soldat berichtet:
„Für einen Auftragnehmer ist es akzeptabel, Menschen zu töten, die nur nach Nahrung suchen, damit er ein weiteres Haus abreißen kann.“
Es gibt keinen Schutz für die Zivilbevölkerung
Ein Offizier kritisiert die mangelnde Professionalität und Menschlichkeit der eingesetzten Methoden:
„Eine Kampfbrigade hat nicht die Mittel, mit einer Zivilbevölkerung in einem Kriegsgebiet umzugehen. Mörserfeuer, um hungrige Menschen fernzuhalten, ist weder professionell noch menschlich. Als Land haben wir die Verantwortung, dass die Versorgung sicher abläuft.“
Die IDF rechtfertigt ihr Vorgehen mit dem Hinweis auf die Bedrohung durch die Hamas, die die Bevölkerung aushungern lasse und Hilfslieferungen verhindere.
Die Armeeführung ermögliche der GHF die unabhängige Verteilung von Hilfsgütern. Sie arbeite daran, die Abläufe zu verbessern und Zusammenstöße mit der Zivilbevölkerung zu minimieren. Dennoch bleibt die Praxis des Schusswaffeneinsatzes gegen Zivilisten bestehen.
Ärzte ohne Grenzen kritisieren das Verteilsystem
Médecins Sans Frontières (MSF) kritisierte am 27. Juni scharf das von Israel und den USA koordinierte System der Verteilungszonen für humanitäre Hilfe in Gaza. Es sei unter dem Vorwand eingerichtet worden, die Versorgung der notleidenden Bevölkerung sicherzustellen. Führt laut MSF jedoch zu gravierenden menschlichen, ethischen, sicherheitsrelevanten und rechtlichen Problemen.
MSF verurteilt, dass die humanitäre Hilfe als Druckmittel eingesetzt werde. Die Verteilung sei an Bedingungen wie Zwangsumsiedlung und Kontrolle der Zivilbevölkerung geknüpft. Dies sei Teil einer Strategie der ethnischen Säuberung und diene militärischen Zielen, nicht den Bedürfnissen der Menschen.
Die Verteilungszonen sind laut MSF hochriskant: Menschen werden eingezäunt, müssen stundenlang warten, und es kommt immer wieder zu Gewalt. Bei der ersten Verteilung in Rafah wurden Dutzende Personen erschossen oder verletzt.
Die Ausgabe von Lebensmitteln findet nicht dort statt, wo die Not am größten ist, sondern nur in von israelischen Streitkräften ausgewählten Gebieten. Besonders gefährdet sind Alte und Menschen mit Behinderung, die kaum Zugang zu Hilfsgütern haben.
Die Blockade und die Einschränkungen bei der Hilfe haben dazu geführt, dass die gesamte Bevölkerung Hunger leidet und keinen Zugang zu lebenswichtigen Gütern wie Wasser, Medikamenten und Treibstoff hat. Die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen, viele Krankenhäuser sind zerstört oder geschlossen, und MSF-Teams berichten von dramatisch steigender Mangelernährung.
MSF fordert die sofortige Auflösung des aktuellen Systems der Verteilungszonen. Die Blockade muss beendet, alle Grenzübergänge geöffnet und eine massive, bedingungslose Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff ermöglicht werden. Nur ein sofortiger Waffenstillstand und der freie Zugang für humanitäre Hilfe können die Katastrophe lindern.