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Hajj 2025: die erste Generalversammlung der Geschichte

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Foto: Freepik.com

Die letzte Predigt des Propheten auf der Hajj verweist auf die universelle und und antirassistische Botschaft des Islam.

(iz). Die Hajj – die jährliche Pilgerfahrt, an der fast drei Millionen Musliminnen und Muslime aus rund 180 Ländern teilnehmen – steht wieder bevor. Menschen aus allen Teilen der Welt kommen zusammen, und dieses heilige Ritual des Islam bleibt bis heute die größte Versammlung der Menschheit. Von Dr. Zeyneb Sayilgan

Es ist daher nur angemessen, sie als die erste Generalversammlung der Vereinten Nationen zu bezeichnen – ein Ort, an dem Menschen aus allen Regionen der Erde in Demut, Gleichheit und Hingabe zusammenstehen.

Während der Pilgerzeit halte ich inne und erinnere mich an die Abschiedspredigt des Propheten Muhammad im Jahr 632, gehalten auf dem Berg Arafat in der Nähe von Mekka. Muslime glauben, dass er der letzte Gesandte Gottes an die Menschheit war.

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Kurban Tuisa

Seine letzte Ansprache am Ende der Hajj besitzt bis heute universelle Gültigkeit und war im sozialen Kontext des siebten Jahrhunderts eine radikale Botschaft.

Zwar hat die Menschheit enorme Fortschritte gemacht, doch viele Aspekte seiner Rede sind noch unerfüllt und verweisen auf tief verwurzelte soziale Krankheiten wie Rassismus, Sexismus und ausbeuterischen Kapitalismus. Sie fordern uns auf, aktiv gegen Ungerechtigkeit, Leid und Unrecht in vielen Bereichen des Lebens vorzugehen.

Die Hajj oder der Rassismus

„Alle Menschen stammen von Adam und Eva ab; ein Araber ist einem Nicht-Araber nicht überlegen, noch ist ein Nicht-Araber einem Araber überlegen. Ebenso ist ein Weißer nicht besser als ein Schwarzer, noch ein Schwarzer besser als ein Weißer – außer durch Frömmigkeit und gute Taten. Lernt, dass jeder Muslim ein Bruder des anderen ist und dass die Muslime eine einzige Bruderschaft bilden. Nichts soll einem Muslim rechtmäßig gehören, was einem anderen Muslim gehört – es sei denn, es wurde freiwillig und aus freiem Willen gegeben.“

In einer zutiefst tribalen und ethnisch hierarchischen Gesellschaft war dies eine revolutionäre Aussage. Die Predigt brach mit den rassischen und ethnischen Hierarchien des vorislamischen Arabiens, indem sie den Wert des Menschen nicht an Abstammung, Ethnie oder Hautfarbe, sondern an ethischem Verhalten maß.

Heute – angesichts des fortbestehenden Rassismus in seinen systemischen, institutionellen und kulturellen Formen – ist dieser Aufruf dringlicher denn je.

Die Worte des Propheten fordern moderne Gesellschaften auf, über symbolische Gleichheit hinauszugehen und sich mit den Strukturen und Hinterlassenschaften rassistischer Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen – wie Kolonialismus, Sklaverei, Apartheid und Racial Profiling.

Foto: Prostock-studio, Shutterstock

Sexismus

„O Menschen, es ist wahr, dass ihr gewisse Rechte gegenüber euren Frauen habt, aber sie haben auch Rechte über euch.“

In einer Gesellschaft, in der Frauen kaum oder keine Rechte hatten, war die Anerkennung der Frau als gleichberechtigte Partnerin mit gegenseitigen Rechten bahnbrechend. Der Prophet forderte die Männer auf, Frauen mit Güte zu behandeln und erkannte ihre moralische und spirituelle Gleichwertigkeit an.

Trotz bedeutender Fortschritte in der Gleichstellung der Geschlechter kämpfen moderne Gesellschaften weiterhin mit patriarchalen Strukturen, geschlechtsspezifischer Gewalt, Lohnungleichheit und kulturell verankerter Frauenfeindlichkeit.

Die Predigt betont gegenseitige Würde, Fairness und moralische Verantwortung – eine Herausforderung sowohl für traditionelle als auch moderne Systeme, die Frauen entmenschlichen oder marginalisieren.

Foto: Reiner Pfisterer | Tafel Deutschland e.V.

Kapitalismus

„Gott hat euch den Zins (Wucher) verboten, daher sollen alle Zinsverpflichtungen von nun an aufgehoben sein … Hütet euch vor Satan, zum Schutz eurer Religion. Er hat jede Hoffnung aufgegeben, euch in großen Dingen noch in die Irre zu führen – also seid wachsam bei den kleinen.“

Diese Aussage war ein direkter Angriff auf ausbeuterische Finanzsysteme, insbesondere den Wucher, der Armut und Ungerechtigkeit zementierte. Mit seiner Ablehnung traf der Prophet den Kern ungerechter ökonomischer Beziehungen.

Heute spiegelt der unregulierte Kapitalismus viele dieser ausbeuterischen Dynamiken wider: Lohndiebstahl, räuberische Kreditvergabe, Monopolbildungen, Zwangsarbeit und eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich.

Die Predigt ruft dazu auf, Wirtschaftssysteme zu schaffen, die ethische Verantwortung, Gerechtigkeit und soziales Wohl über Gewinnmaximierung stellen.

Nicht nur ein historisches Dokument

Die Abschiedspredigt des Propheten ist nicht bloß ein historisches Dokument – sie ist ein moralischer Kompass. Sie lädt Menschen aller Glaubensrichtungen ein, über Gerechtigkeit, Würde und die gemeinsame Menschlichkeit nachzudenken, die wir allzu oft inmitten von Spaltung und Gier vergessen.

Diese Predigt liest sich wie eine Menschenrechtserklärung – Jahrhunderte vor modernen Chartaformeln. Sie spricht von der Unantastbarkeit von Leben und Eigentum – niemandes Leben, Besitz oder Ehre darf verletzt werden. Sie ruft zur universellen Gleichheit und Einheit auf:

Alle Menschen sind Teil einer einzigen Familie. Sie erinnert an moralische Verantwortung und dass jeder Einzelne für seine Taten verantwortlich ist. Sie mahnt zu Gerechtigkeit und Maß: Kein Übermaß, kein Schaden – weder im Reichtum, noch im Geschlecht, noch in der Macht.

Auch wenn die Menschheit in vielerlei Hinsicht vorangekommen ist, zeigt die Botschaft dieser Predigt, wie weit der Weg noch ist. Sie ist ein zeitloser Aufruf, Rassismus und Vorurteile zu überwinden, patriarchale Unterdrückung zu beenden, ausbeuterische Wirtschaftssysteme zu reformieren und Gesellschaften zu bauen, die auf Mitgefühl, Gerechtigkeit und gemeinsamer Verantwortung beruhen. Wenn wir sie ernst nehmen, bleibt die Abschiedspredigt ein revolutionäres Manifesto für unsere fragmentierte Welt.

* Dr. Zeyneb Sayılgan ist Islamwissenschaftlerin. Ihre Forschung beschäftigt sich mit dem theologischen Gedankengut des muslimischen Gelehrten Bediüzzaman Said Nursi (1876-1960). Hierzu moderiert sie den Podcast Begegnung mit dem Islam. Ihre Arbeit wird in verschiedenen Medien veröffentlicht.

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