(iz). Bei uns wäre so etwas undenkbar: Eine Gruppe ausländischer Studenten geht – mehr oder weniger – ungeplant in die Zentrale der siegreichen Partei und will den Kopf der Partei treffen. Unwahrscheinlich. Eine kleinen Schar junger, deutscher Studenten ist es gelungen, den Kopf der tunesischen Ennahda-Bewegung Rachid el-Ghannouchi zu treffen. Anbei dokumentieren wir die Fragen und Antworten dieser spontanen Begegnung.
Frage: Welche Rolle spielt Deutschland in den internationalen Beziehungen Tunesiens?
Ghannouchi: Uns verbindet mit Deutschland eine sehr gute Freundschaft. Dementsprechend sind die Beziehungen sehr solide. Deutschland ist für die Investitionen, den Tourismus, die Bildung etc. in Tunesien sehr wichtig. Unsere wirtschaftlichen Beziehungen sind sehr stark. Deutschland ist (nach Frankreich) unser zweitwichtigster Markt im Tourismusbereich. Zudem gibt es in Deutschland viele tunesische Studenten; also unsere Elite wird zum Teil in Deutschland ausgebildet.
Leider baut Deutschland seine Beziehungen mit Tunesien oft über Frankreich aus. Ich denke, Deutschland hat es nicht nötig, mit uns über Frankreich zu verhandeln oder seine Sicht zu Tunesien durch Frankreich bestimmen zu lassen. Daher hätten die deutschen Regierungen eine andere Haltung zu der langjährigen Diktatur in unserem Lande nehmen sollen, als die die französischen Regierungen genommen haben.“
[Rachid el-Ghannouchi lässt sich sehr viel Zeit. Ist es vielleicht eine Taktik? Man weiß es nicht. Er spricht scheinbar altersbedingt langsam und wiederholt sich immer wieder. Wir werden unruhig und blicken panisch auf all unsere Fragen, die noch unbeantwortet geblieben sind. Die 15 Minuten kommen uns erstaunlich kurz vor. Ein Student schlägt sich unabsichtlich, reflexhaft auf seinen Schenkel, als er vom ihm bei der Stellung der nächsten Frage unterbrochen wird. Zum Glück bemerkt der el-Ghannouchi nichts und setzt unbehelligt fort.]
Frage: Wie schätzen Sie die Reaktion der EU auf die tunesische Revolution?
Ghannouchi: Vorweg möchte ich sagen: Die EU hat keine Maßnahmen gegen die Diktatur Ben Ali ́s ergriffen. Alle deutschen Regierungen schwiegen über Ben Ali ́s undemokratischen und korrupten Machenschaften. Gerade von Deutschland, die unter einer schlimmen Diktatur gelitten haben, hätte ich Solidarität während unserer Diktaturzeit erwartet. Denn wir haben nicht weniger gelitten als die Deutschen unter ihrer Diktatur.
Frage: Wollen Sie etwa die Diktatur während des Nationssozialismus in Deutschland mit Ben Ali's Diktatur vergleichen?
Ghannouchi: Nun möchte ich noch hinzufügen, dass die EU sehr zögernd auf die jüngsten Ereignisse in Tunesien reagiert hat, als ob sie die französische Entscheidung gegenüber der tunesischen Revolution abgewartet hätte. Allerdings möchte ich auch dankbar erwähnen, dass Deutschland vielen Ennahda-Aktivisten während der Ben Ali's Diktatur Asyl und Exil gewährte. Ferner hat Deutschland im Gegensatz zu anderen Staaten unsere Aktivisten nicht an den Diktator Ben Ali ausgeliefert.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen Vorfall in Deutschland: Mitte der Neunziger Jahre haben die deutschen Behörden mehrere unserer Aktivisten, die Ben Ali auf die Interpol-Liste setzen ließ, festgenommen. Dann warteten sie 40 Tage vergeblich auf die von der tunesischen Regierung geforderten Akten mit den Anklagepunkten. Am Ende mussten sie unsere Aktivisten frei lassen.
Frage: Ihr Ministerpräsident, Hammadi Jebali, beschrieb den Sieg der Ennahda in den letzten Wahlen als Beginn des 6. Rechtgeleiteten Kalifats. Glauben Sie, dass das islamische Kalifat-System mit den Grundsätzen einer modernen Demokratie konform ist?
Ghannouchi: Ja, das Kalifat-System ist mit den Grundsätzen einer modernen Demokratie konform, denn alle Kalifen [Abu Bakr, Umar, Uthman, Ali und Umar Ibn Abd al-Aziz] wurden vom Volk gewählt. (…) Die Herrschaft dieser fünf Kalifen zeichnet sich durch die Gerechtigkeit und die Prosperität aus. Das ist, was der Ministerpräsident, Hammadi Jebali, als nachahmungswürdig ansieht. Es gilt also nicht das politische, sondern das Wertesystem dieser frühislamischen Herrscher für Hammadi Jebali als Vorbild.
Abgesehen davon weiß der Ministerpräsident, dass die Partei Ennahda eine tunesische nationale Partei ist, die keinerlei panarabische noch panislamische Bestrebungen hat. Unser Programm ist ein nationales Programm für ein nationales System und kein panarabisches oder panislamisches Programm eines Kalifat-Systems.
Frage: Wie stehen Sie zur Tahrir-Partei und anderen salafistischen Bewegungen in Tunesien?
Ghannouchi: Sie sind islamische Parteien. Wir sind mit ihnen einig über den Islam, den Koran und die Sunna. Im Islam gibt es kein Monopol auf den Glauben. Somit ist es ihr Recht, den Islam anders zu verstehen. Allerdings teilen wir ihre Ansicht nicht, dass die Demokratie eine Sünde sei, oder dass laizistische Parteien verboten werden müssten. Trotz alldem haben sie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Folglich werden wir Parteibildungen zulassen, solange keine Gewalt von ihnen ausgeht.
Frage: Finden Sie die Freizügigkeit und liberalen Lebensstil vieler Tunesier/innen unmoralisch? Falls ja, was gedenkt Ennahda, dagegen zu unternehmen?
Ghannouchi: Es gibt keine ideale Gesellschaft. Die Moral kann und darf nicht staatlich durchgesetzt werden, denn es ist die Gesellschaft selbst, die ihre Werte bestimmt. Vielmehr wäre es unmoralisch, die Moral staatlich festlegen zu wollen.
Frage: Sehen Sie die Zwei-Staaten-Lösung für den palästinensischen-israelischen Konflikt als akzeptabel an?
Ghannouchi: Meine Meinung ist da unwichtig. Wichtig ist allein die Meinung der Palästinenser. Daher wird ihre Meinung auch die unsere sein. Momentan ist aber der Ball auf der Seite Israels. Israel ist nun am Zug, die UNO- Resolution, der sogar die Hamas zugestimmt hat, anzuerkennen.
Frage: Vielen Dank für das Interview, Herr Ghannouchi.