Identität, oder was?

(Mediendienst Integration). Seit Langem kritisieren Forscher, wie der „Migrationshintergrund“ erfasst wird. Zuletzt gab es einige Änderungen in der Definition und Erhebung. Die Sozialan­thropologin Anne-Kathrin Will schreibt dazu: Die Neuerungen haben den „Migrationshintergrund“ noch undurchsichtiger gemacht.

Das Statistische Bundesamt erfasst den sogenannten Migrationshintergrund seit über zehn Jahren im Mikrozensus. Die Daten des Mikrozensus beeinflussen politische Zielvorgaben, zum Beispiel in der Bildungs- oder Arbeitsmarktpolitik. Auch in öffentlichen Debatten dreht sich vieles um die „Migrationshintergründler“.

Früher gab es in der Statistik nur „Ausländer“ und „Deutsche“. Zunehmend wurden „Ausländer“ für die Statistiker jedoch unsichtbar, weil sie sich einbürgern ließen oder ihre Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden. Erst mit dem Mikrozensusgesetz 2005 wurden diese Menschen wieder in der Statistik sichtbar. Die Defi­nition des Migrationshintergrundes und die Erhebungsmerkmale wurden im Jahr 2016 angepasst.

Im öffentlichen Diskurs scheint die Zuordnung zu „Menschen mit Migrationshintergrund“ einfach. Die statistische Erfassung im Mikrozensus sei jedoch sehr komplex, schreibt Anne-Kathrin Will in einem Informationspapier. Das neue Mikrozensus-­Gesetz habe die Erfassung undurchsichtiger gemacht.

Eine Frage à la „Haben Sie einen Migrationshintergrund?“ gibt es nicht. Stattdessen werde der Migrationshintergrund mithilfe zahlreicher Fragen erhoben: Neuerdings müssen Teilnehmende bis zu 27 Fragen beantworten, von denen 19 zur Erhebung des Migrationshintergrundes genutzt werden. Das Statistische Bundesamt erfragt heute weitere Sachverhalte. Neu sind Fragen zum Geburtsland der Teilnehmenden, zu den Geburtsländern der Eltern, zum Grund des Zuzugs und dazu, welche Sprache die Befragten vorwiegend zu Hause sprechen. Das Statistische Bundesamt wertet diese Fragen aus. Doch wie die Zuordnung eines Migrationshintergrundes erfolgt, sei nicht transparent, so Will. Mit anderen Worten: Die Befragten ordnen sich nicht selbst in die Kategorie ein und können somit auch nicht mitbestimmen, ob sie sich als Mensch mit Migrationshintergrund sehen oder nicht.

Die Soziologin Linda Supik hat untersucht, wie der Migrationshintergrund in anderen europäischen Staaten erhoben wird. Demnach können Menschen etwa in Polen oder Großbritannien selbst entscheiden, zu welcher „ethnischen“ oder „nationalen Gruppe“ sie gehören. Dadurch werde die Zuge­hörigkeit nicht von einer Behörde festgelegt, sondern von den Befragten selbst. Jedem stehe frei, „polnisch“ beziehungsweise „britisch“ anzugeben.

Zwar hat sich mit der neuen Definition nicht grundsätzlich geändert, wen das Statistische Bundesamt zu den „Personen mit Migrationshintergrund“ zählt. Die neue ­Definition mache jedoch noch deutlicher, dass es beim Konzept des „Migrationshintergrundes“ um ethnische Abstammung geht, und nicht um Migrationserfahrung, wie es der Begriff „Migrationshintergrund“ eigentlich nahelege, schreibt Will.

Will kritisiert, dass die Zuschreibung eines Migrationshintergrundes Nachkommen von Zugewanderten stigmatisiere. Zudem helfe die Art der Erfassung nicht, Diskrimi­nierungserfahrungen sichtbar zu machen. Wenn es darum gehe, die Benachteiligungen von Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihres Namens auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem abzubilden, so sei das mit dem Migrationshintergrund im ­Mikrozensus auch nach der Gesetzesänderung weiterhin nicht möglich.

Der Volltext wurde am 28.07.2020 im Rahmen einer Creative Commons-Lizenz veröffentlicht.