
Seit Tagen steht eine Aussage von Bundeskanzler Merz zum „Stadtbild“ im Zentrum einer politischen und medialen Diskussion. Zusammenfassung und Analyse.
(iz). Bei einem Besuch in Potsdam sagte der Regierungschef auf die Frage nach dem Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD), dass „wir natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem“ hätten, woraufhin Rückführungen im „sehr grossen Umfang“ folgen müssten.
Dieser scheinbar beiläufige, andererseits symbolisch hoch aufgeladene Satz hat eine Welle der Empörung ausgelöst – mit Vorwürfen von Rassismus und Ausgrenzung auf der einen Seite, und Rückendeckung und Forderung nach Offenheit gegenüber Realitäten auf der anderen.
Foto: Deutscher Bundestag / Thomas Köhler / photothek
Der Kanzler zum „Stadtbild“: Ausgangspunkt der Debatte
Auslöser war ein Termin am 14. Oktober 2025 in Potsdam. Auf die Frage nach dem Erfolg der Migrationspolitik und dem Erstarken der AfD antwortete er, man habe „nachgeholt, was man versäumt hat“ – und ergänzte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“
In der Wortwahl liegt der Zündstoff: Ein Begriff wie „Stadtbild“ suggeriert – obwohl nicht explizit formuliert – dass sichtbare soziale oder ethnische Gruppenformen Teil eines Problems seien, und verknüpft dies mit Rückführungspolitik. Wichtig ist festzuhalten, dass Merz in seiner Rede zugleich betonte, Migration dürfe nicht ausgrenzend behandelt werden und die Politik müsse Regelungen schaffen.
Diese Aussage ereignete sich nicht im luftleeren Raum: Die Union steht strategisch unter dem Druck, Stimmen der AfD abzuwehren und zugleich Migration, Integration und Sicherheit als Themen zu besetzen. Der Satz vom „Problem im Stadtbild“ trifft damit einen empfindlichen gesellschaftlichen Nerv – zwischen Alltagserfahrung, Ängsten, Wahrnehmungen und politischer Sprache.
Kritiker werfen dem Kanzler Ausgrenzung, Rassismus und Symbolpolitik vor
Die Reaktionen aus der Opposition und aus Teilen der Zivilgesellschaft waren scharf und einhellig: Für die Bündnis 90/Die Grünen war die Aussage „ein fatales Signal“. Für die Partei Die Linke war sie ein Ausdruck eines „zutiefst menschenverachtenden Weltbilds“.
Zu den Kernpunkten der Kritik zählen u.a. folgende Punkte:
- Der Begriff „Stadtbild“ hier wird kodiert: Was in die Öffentlichkeit als „Problem“ aufgenommen wird, sind nicht konkrete Handlungen oder Straftaten, sondern Menschen, deren Präsenz als visuell auffällig empfunden wird – oft mit Zuwanderungsgeschichte.
- Die Aussage stigmatisiert Menschen mit Migrationsgeschichte als Teil des Problems – und nutzt dabei Ästhetik („Stadtbild“) statt differenzierter, zahlenbasierter Analyse.
- Als Bundeskanzler trägt er besondere Verantwortung – eine solche Äußerung wirke nicht wie eine Analyse, sondern wie Stimmungsmache gegen Minderheiten: „Eines Kanzlers unwürdig“, so ein SPD-Politiker.
- Von einer schwarz-roten Regierung und insbesondere der Union wird erwartet, pluralistische Gesellschaft zu bestärken, nicht Gruppen als visuelle Störung darzustellen. Ein solcher Diskurs könne Spaltung befördern, Ressentiments schüren und die AfD stärken.
- Zudem verwies die SPD-Integrationsbeauftragte Pawlik darauf: „Migration darf nicht durch verkürzte oder populistische Schnellschüsse stigmatisiert werden – das spaltet die Gesellschaft noch mehr.“
Innerhalb der Union regte sich Widerspruch: Berlins Bürgermeister Kai Wegner (CDU) distanzierte sich und erklärte: „Berlin ist eine vielfältige, internationale und weltoffene Stadt. Das wird sich immer auch im Stadtbild abbilden.“ Zugleich mahnte er, man könne Probleme wie Gewalt und Kriminalität zwar benennen, aber „nicht an der Nationalität festmachen“.
Unionspolitiker und konservative Medien schließen sich den Kanzleraussagen an
Auf der anderen Seite versuchte die Union, insbesondere Merz und seine Verbündeten, die Aussage zu rechtfertigen und in einen größeren Kontext zu stellen:
- Es sei legitim, dass politische Führung nicht nur über „Werte“ rede, sondern auch über wahrgenommene Probleme im Alltag – etwa Unsicherheit, Kriminalität, sichtbare Vernachlässigung von öffentlichen Räumen.
- So argumentierte etwa Jens Spahn (CDU), der sagte: „Der Bundeskanzler hat doch eigentlich etwas ausgesprochen, was jeder sieht, wenn er durch Duisburg geht … Irreguläre Migration hat etwas verändert.“ Er nannte explizit Hauptbahnhöfe als Orte der Wahrnehmung.
- Man müsse den Begriff „Stadtbild“ nicht gleich als ethnische Kategorie verstehen, sondern als Hinweis auf sichtbare soziale Realitäten: Desinteresse, Kriminalität, Unsicherheit – und diese müssten benannt werden, um sie zu verändern.
- Die Verteidiger werfen den Kritikern vor, „Scheindebatten“ zu führen und die Alltagsängste der Menschen zu ignorieren – also ein Stück weit Realitätsferne der politischen Klasse.
Merz selbst versuchte, im Nachgang zu betonen, dass er nicht als Kanzler, sondern „als Parteivorsitzender“ sprach. Und dass Integration und qualifizierte Zuwanderung nach wie vor Teil seines Ansatzes seien.
Aus dieser Perspektive wird die Aussage als „politisch beabsichtigt“ verteidigt: Man wolle klar machen, dass es nicht (nur) um moralische Haltungen gehe, sondern um sichtbare Wirklichkeit – und dass dies keine Ausgrenzung bedeute, vielmehr die Forderung nach Regel- und Ordnungspolitik.
Foto: imago/PMAX
Zwischen Sprache und Strategie: Was steckt dahinter?
Der Begriff „Stadtbild“ wirkt auf den ersten Blick harmlos – doch im politischen Kontext wird er zu einem Kodierungselement: „Problem im Stadtbild“ heißt hier faktisch: „Es gibt sichtbare Gruppen im öffentlichen Raum, die nicht den Erwartungen entsprechen.“
Damit wird eine ästhetisch-soziale Bewertung vorgenommen. Die Sprache dient nicht allein Information, sondern Konstruktion eines Problems. Solche rhetorischen Mittel sind bestens bekannt aus politischen Diskursen, die „Stimmung“ erzeugen – hier spielt „Stadtbild“ eine Rolle zwischen Fakt und Gefühl.
Zudem stellt sich die Frage, ob der Kanzler nicht mehr Verantwortung dafür tragen sollte, wie solche Begriffe wirken: Sie gehen über die Beschreibung von Tatbeständen hinaus und treffen Wahrnehmungsmuster, die Migration, Zugehörigkeit und öffentliche Ordnung vermischen.
Politisch ist die Aussage von Merz vor dem Hintergrund der Union und der AfD-Rivalität zu sehen. Die CDU versucht, einerseits eine klare Abgrenzung zur AfD zu zeigen, andererseits aber Themen wie Migration und Sicherheit zu besetzen, die für viele Wähler relevant sind. Die Formulierung vom „Stadtbild“ kann als Versuch gelesen werden, eine mobilisierende Sprache – jenseits akademisch-politischer Begriffe – zu verwenden.
Es besteht die Gefahr, dass eine solche Strategie die Gesellschaft spaltet: Wenn Begrifflichkeit von Gruppen als „Problem“ spricht, führt das zu Entfremdung. Der Hinweis von Wegner („nicht an der Nationalität festmachen“) zeigt, dass selbst innerhalb der Union Unsicherheit über diesen Kurs herrscht.