Wie können wir mit Krisen umgehen?

Ausgabe 342

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Krisen verarbeiten: Dieser Text ist ein Versuch, Kunst sowie andere Techniken des Selbst als Chance für Ausdruck und Heilung zu deuten.

(iz). Der aktuelle Krieg und das unvorstellbare Grauen für die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen hat viele in Deutschland in vielfältiger Weise betroffen. Dazu gehören in erster Linie die Verwandten der Getöteten, Verletzten oder Verschleppten auf palästinensischer und israelischer Seite.

Nimmt man Empathie und Mitgefühl ernst, dann gilt ihnen Solidarität und der Wunsch, dass das Leiden ihrer Angehörigen und Freunde ein Ende haben möge.

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Krisen: Hiesige Gemeinschaften sind durch den Krieg betroffen

Über diesen Aspekt hinaus sind JüdInnen in Deutschland und ihre Institutionen von antijüdischer Gewalt betroffen, die sich hier manifestiert hat. Nach Berichten öffentlicher Stellen kam es nach dem 7. Oktober zu einem massiven Anstieg antisemitischer Übergriffe. Berührt sind ebenso Angehörige der palästinensischen und arabischen Communitys.

Ein Teil stammt aus Palästina oder Israel; ein anderer aus einer Familie mit regionaler Fluchtbiografie. Sie sind nicht nur unmittelbar von Krieg, Terror und Gewalt betroffen. Sondern werden von Generalverdächtigungen und Assoziationslogiken im öffentlichen Diskurs berührt. Viele haben in den letzten Wochen eine deutliche Enttäuschung über den bundesdeutschen Umgang mit ihnen und ihren Perspektiven geäußert.

Im weiteren Sinne sind muslimische Gemeinschaften und ihr Verhältnis zur sogenannten Mehrheitsgesellschaft tangiert. Sie selbst und kritische nichtmuslimische Stimmen sind vielfach an die düsteren Monate und Jahre nach 9/11 erinnert (vgl. S. 14).

Manche Forderungen und Positionen der Politik mit dem organisierten Islam, die schon überwunden schienen, werden von Ampelkoalition und Opposition erneut hervorgeholt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Text bezieht sich selbstverständlich nicht auf die Situation der Zivilbevölkerung vor Ort. Was sie braucht, liegt auf der Hand: ein sofortiges Ende von Krieg und Gewalt, Nothilfe und langfristige Versorgung, Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben und endlich eine tragfähige (Auf-)Lösung des Nahostkonflikts.

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Mit dem Krieg kommen individuelle wie kollektive Belastungen

Dieser Krieg (wie frühere Ereignisse und Krisen) bringt Belastungen und Stress für Individuen und Communitys mit sich. Hinzu kommt, dass der Umgang mit einer Flut negativer Nachrichten (siehe S. 23) auch für die körperliche, emotionale und geistige Gesundheit ungesund ist. Zudem zeigt sich nicht erst seit dieser Krise, dass eine emotions- und affektgesteuerte Verarbeitung weder nachhaltig noch produktiv ist.

Meine Grundthese lautet: Wir brauchen (individuell und kollektiv) einen Rückgriff auf Traditionen (s. S. 19) des Umgangs mit Krisen- und Belastungsmomenten. Finden wir sie nicht, müssen wir sie suchen, adaptieren und neu erfinden. Ich bin der Überzeugung, dass uns derzeit drei wesentliche Elemente für einen gesunden Umgang mit Krisen und Negativität fehlen: Sublimierung, Katharsis und Ekstase (im erlaubten Sinne).

Auch hier bedarf es einer Erklärung: Dieser Text ist nicht eskapistisch. Weder soll er zur Weltflucht motivieren, noch bedeutet er, die Wirklichkeit durch eine „rosarote Brille“ zu betrachten. Nein, die Dinge sind, wie sie sind.

Was sich meiner Meinung nach ändern muss, ist die Weise, wie wir sie interpretieren und ob wir zulassen, dass die in ihnen enthaltene Negativität und Gewalt unser innerstes Dasein und Selbstverständnis beeinträchtigen.

Man möge mir den kruden biologischen Vergleich verzeihen: Als sozialer Organismus muss sich die Reaktion (und das verbundene Verhalten) auf diese Form von äußerem Stress ändern. Sonst bleiben wir bei unbewussten und für uns ungesunden Affekten.

Reflexion

„Wohin geht ihr also?“ (At-Takwir, Sure 81, 26)

Als Muslime wissen wir, dass jeder von Allahs Dienern entsprechend seiner Fähigkeit geprüft wird: „Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag.“ (Al-Baqara, Sure 2, 286) Einige Prüfungen sind bekannt. Dazu gehört die gegenwärtige schmerzliche Situation in muslimischen Ländern. Aber auch die der Gesellschaften, in denen wir leben.

Für dieses Wissen und andere Aussagen (z.B. dass mit der Bedrängnis auch die Erleichterung kommt) gilt, dass sie nicht instrumentalisiert werden dürfen, um die Auseinandersetzung mit der Realität zu vermeiden oder auszublenden.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es neben solchen Versen und/oder Hadithen eine Person braucht, die sie verwirklicht. Wer in einer kleinbürgerlichen Existenz lebt, kann diese Wahrheiten zwar aussprechen, aber kennt ihre Wirklichkeit nicht.

Wenn Allah in dem obigen Vers sagt „Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag“, dann heißt das nicht nur, dass Er uns nicht über das Maß hinaus etwas auferlegt, das wir zu tragen vermögen. Sondern zugleich, dass es Prüfungen gibt. Das gehört zur Existenz. Wir können sie weder „wegdenken“ noch in falsch verstandener Innerlichkeit leugnen.

Auch das ist für heutige Muslime ein schwieriger Gedanke: Allah offenbart sich in Seinen schönen UND Seinen majestätischen Namen. In der Nachfolge Seines edlen Gesandten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, dürfen wir nie vergessen, dass Allah in Seiner Schöpfung regiert.

Bei der Vorbereitung dieser Ausgabe bin ich auf ein Zitat des verstorbenen türkischen Sufis Seyyid Ahmet Arvâsî gestoßen, das die „condition humaine“ unserer Zeit beschreiben könnte: „Der Mensch wird unvermeidlich deprimiert sein. Das ist ein normaler Teil seines Lebens. Es ist das Phänomen, innere Energie zu sammeln und sie nutzbar zu machen. Abnormal ist die Unfähigkeit, die Depression zu sublimieren, oder der Versuch, sich nicht depressiv zu fühlen.“

sherman jackson

Wir brauchen „theologische Antworten“

Wenn es um die Beschäftigung mit kollektiven Prüfungen und Herausforderungen dieser Welt geht, wie es der Nahostkonflikt oder die Diskriminierung von Minderheit in Europa der Fall ist, fällt in der muslimischen Sphäre ein Aspekt auf: Mit wenigen Ausnahmen werden wir zu funktionalen Atheisten. Was bedeutet das? Wir verstehen Leid, Krieg oder Muslimfeindlichkeit als diesseitige, sichtbare Phänomene ohne dazugehörige Transzendenz.

Werden MuslimInnen angesprochen, dann meist unter identitätspolitischen Gesichtspunkten. Das Göttliche kommt kaum oder nur als Anrufung eines vermeintlich Abwesenden vor. Die Folgen sind, wie oben angedeutet, eher negativ. So schleichen sich Depression, Verzweiflung und Ressentiment in den Kern muslimischer Existenz.

Der amerikanische Denker Sherman Jackson beschreibt in seinem Buch „Islam and Problem of Black Suffering“ einen anderen Weg. Er befasst sich mit der komplexen Schnittmenge zwischen Allahs Din und der Erfahrung des Schwarzen Leidens. Er setzt sich mit den wichtigsten Schulen der Glaubenslehre auseinander, um deren Perspektiven auf menschliches Handeln, göttliche Gerechtigkeit und den Sinn der Bedrängnis zu analysieren.

Der muslimische Intellektuelle untersucht dabei „Fitra“, der inhärenten Güte aller Menschen in der islamischen Tradition und argumentiert, dass dieses Konzept die angeborene Würde und den Wert von Schwarzen bekräftigt und den entmenschlichenden Auswirkungen von Rassismus und Unterdrückung entgegenwirkt.

Im Buch betont Jackson die Rolle von Community und des sozialen Handelns in der Überwindung des Leidens. Er stützt sich auf die Begriffe „Umma“ (Gemeinschaft) und „Schura“ (Beratung), um für gemeinsame Anstrengungen zur Bekämpfung von Rassismus, Armut und anderen Formen der Ungerechtigkeit zu plädieren.

Sublimierung

Ein wichtiger Anfang ist Erkenntnis einer ungesunden Situation. Zuerst muss man sich bewusst werden, dass etwas falsch läuft. Dazu gehört das Eingeständnis seiner Existenz. Und dann danach suchen, was nicht stimmt. Resilienz (siehe S. 23) kann beispielsweise durch Sublimation erreicht werden. Dabei werden Impulse, die das Wohlbefinden bei ständiger Belastung gefährden, in konstruktive Verhaltensweisen umgewandelt. Das ist ein Weg, negative Emotionen zu bewältigen, Stress abzubauen und Wachstum zu fördern. Dies kann auf natürliche Weise geschehen. Es gibt aber auch Strategien, die bewusst eingesetzt werden können.

Eine davon ist künstlerischer Ausdruck. Er bezieht sich hier auf den Prozess, Erfahrungen, Gefühle und Gedanken in kreative Ausdrucksformen umzuwandeln. Kunst wird so zu einem Medium der Sublimierung von Emotionen, indem sie diese in greifbare Formen umwandelt, die von anderen geteilt und verstanden werden können.

Bis zur „große[n] Weißung“ (E. Jünger) des modernen Kapitalismus hatten Gemeinschaften, die ihrer Fitra nahe blieben, Rituale und Traditionen, die dies ermöglichten. Heute müssen wir sie suchen. Ein Beispiel ist die Musik der Schwarzen in den USA. Gospel, Blues und Jazz wuchsen in der Auseinandersetzung mit Sklaverei und hundert Jahren Rassentrennung. Sie entstanden als urtümlicher Ausdruck, angesichts der permanenten Tyrannei die innere Freiheit und Freude nicht zu verlieren – ja, überhaupt am Leben zu bleiben.

Katharsis

Mit Sublimation wird ein Prozess der Läuterung und Reinigung assoziiert. Es handelt sich um ein psychologisches und literarisches Konzept, das sich auf die Veränderung der Gefühlslandschaft vor allem durch Kunst bezieht.

Der Begriff stammt aus dem Griechischen. Wichtig ist dabei, dass mit Gefühlen nicht nur etwas Abstraktes gemeint ist, sondern auch der körperliche Aspekt unserer Existenz, der sich – meist unbewusst – mit Emotionen auseinandersetzen muss.

Der Begriff wurde erstmals von Aristoteles in seinem Werk „Poetik“ eingeführt. Er vertrat die Ansicht, dass die Tragödie durch die Darstellung von Leid, Mitleid und Angst beim Publikum ein kathartisches Erleben hervorrufen könne. Durch diese Erfahrung würden diese Emotionen freigesetzt, was zu einem Gefühl der emotionalen Reinigung und Erleichterung führe.

Was für die antiken Griechen die Geburt der Tragödie war, durch die sie u.a. ihren archaischen Drang zum Menschenopfer überwanden (vgl. IZ Nr. 341), muss sich heute erweisen. Eines davon kann Musik sein.

So wussten Muslime seit frühester Zeit, dass und welche Zustände (Maqamat) ihre Entsprechung in der menschlichen Psyche haben. Auch der Dienst am Nächsten (arab. khidma) und seine Bevorzugung (arab. ithar), die in der Futuwwa praktiziert werden, haben kathartische Wirkung.

Ekstase

Wenn wir von „Ekstase“ sprechen, meinen wir nicht den verbotenen Rausch durch Substanzen, die haram sind. Es geht, in der Sprache der Sufis, um den „Wein, der nicht betrunken macht“ oder den „nüchternen Rausch“.

Diese Momente müssen nicht auf einen „Sufismus“ beschränkt sein. Aber was wir zweifellos brauchen, kommt in Schillers „Ode an die Freude“ zum Ausdruck, wo es zum Beispiel heißt: „Freude heißt die starke Feder. In der ewigen Natur, Freude, Freude treibt die Räder in der großen Weltenuhr“.

Um lebendig zu sein, müssen wir die blockierten Energien in uns freisetzen. So wie die Schwarzen den Blues sangen, um am Leben zu bleiben, brauchen wir einen solchen „wilden Lebensimpuls“, wie Schaikh Dr. Abdulqadir vor Jahren in einem Text über Ägypten schrieb. Mit dieser Lebensenergie, die aus der Gemeinschaft und der Freude des Dhikr erwächst, wird Handeln erst möglich.

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