,

Militarisierung: Regierungsberater fordern Stopp für Waffenlieferungen in die arabische Welt

Siedlergewalt Nahost
Foto: GRAPHIC DESIGN BLOG

BERLIN (GFP.com). Berliner Regierungsberater dringen auf einen Kurswechsel bei den Rüstungslieferungen in die arabische Welt und sprechen sich für einen Exportstopp aus. Wie es in einer aktuellen Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) heißt, hätten diverse Staaten Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens seit den arabischen Revolten im Jahr 2011 begonnen, ihre Außenpolitik aus der Kontrolle durch die USA zu lösen und sie immer eigenständiger zu gestalten. Dabei nutzten sie allerdings „stärker als zuvor militärische Mittel …, um Interessen durchzusetzen“; dies zeige sich etwa in den Kriegen im Jemen, in Libyen und in Syrien.

Es bestehe „eine hohe Wahrscheinlichkeit“, dass deutsche Waffenexporte in die arabische Welt beitrügen, „Europas Nachbarschaft zu destabilisieren“, warnt die SWP. In der Tat kommen deutsche Waffen schon längst in den Kriegen im Jemen und in Libyen zum Einsatz. Dabei ist der Anteil der Waffenlieferungen an die fünf größten arabischen Käufer am gesamten deutschen Rüstungsexport in den vergangenen 20 Jahren von 3,1 auf 32 Prozent gestiegen.

Ein Drittel des Rüstungsexports
Der kontinuierliche Anstieg der deutschen Rüstungsexporte in die arabische Welt ist bereits seit Mitte der 2000er Jahre zu beobachten. Dies zeigt eine aktuelle Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die den Wert der Berliner Regierungsgenehmigungen für Waffenausfuhren in die jeweils fünf wichtigsten arabischen Empfängerstaaten ab 2002 in Dreijahreszeiträumen aufsummiert hat.

Lag ihr Anteil an den gesamten Rüstungsexportgenehmigungen in der Zeit von 2002 bis 2004 noch bei gerade einmal 3,1 Prozent, so stieg er ab 2005 an und erreichte in den Jahren von 2008 bis 2010 bereits rund 10 Prozent; darin spiegeln sich insbesondere die deutschen Bestrebungen wider, die arabischen Golfstaaten gegen Iran hochzurüsten, nachdem dessen Rivale Irak von den USA im Jahr 2003 machtpolitisch außer Gefecht gesetzt worden war.

Ein weiterer drastischer Anstieg vollzog sich im Dreijahreszeitraum von 2011 bis 2013, als der Anteil der Genehmigungen für Waffenlieferungen an die fünf bedeutendsten arabischen Kunden auf rund 30 Prozent in die Höhe schnellte. Zuletzt lag er (2017 bis 2019) bei sogar 32 Prozent.

Die größten Waffenimporteure der Welt
Vorläufige Zahlen für das Jahr 2020 deuten darauf hin, dass der Trend ungebrochen anhält – dies, obwohl die Bundesregierung am 10. Dezember den Rüstungsexportstopp für Saudi-Arabien um ein Jahr bis Ende 2021 verlängert hat. So wurden vom 1. Januar bis zum 17. Dezember 2020 Exporte von Kriegsgerät nach Ägypten im Wert von 752 Millionen Euro genehmigt. Qatar kann Kriegsgerät im Wert von 305 Millionen Euro erwerben, die Vereinigten Arabischen Emirate Rüstungsgüter im Wert von 51 Millionen Euro, Kuwait Waffen für 23 Millionen Euro.

Die Zahlen sind freilich noch unvollständig. Zuletzt genehmigte Berlin den Verkauf von 15 Flugabwehrpanzern an Qatar. Beobachter gehen davon aus, dass die Lieferung deutscher U-Boote an Ägypten beim Besuch von Außenminister Heiko Maas am Montag in Kairo Gesprächsthema war.

Unter den weltgrößten Waffenimporteuren befinden sich laut dem Stockholmer Forschungsinstitut SIPRI sechs arabische Staaten, die sämtlich auch von Deutschland beliefert werden oder wurden; Saudi-Arabien ist mit einem Anteil von 12 Prozent an allen Waffenimporten weltweit (2015 bis 2019) Nummer eins, Ägypten mit 5,8 Prozent Nummer drei, Algerien mit 4,2 Prozent Nummer sechs.

Kaum noch mit Washington abgestimmt
Ursache für den erstaunlichen Anstieg der Rüstungsexporte in die arabische Welt ab 2011 ist nicht nur die verstärkte Aufrüstung auf der Arabischen Halbinsel gegen Iran. Wie die SWP in ihrer aktuellen Analyse konstatiert, begannen die Golfdiktaturen und Ägypten, die bis zum Beginn der Revolten von 2011 „als abhängige Verbündete der USA außenpolitische Entscheidungen noch eng mit Washington abgestimmt“ hatten, sich „davon zu lösen“ – ein frühes Anzeichen dafür, dass mit dem „Pivot to Asia“ („Schwenk nach Asien“), den US-Präsident Barack Obama im Herbst 2011 verkündete, ein langfristiges Schwinden der US-Dominanz in Nah- und Mittelost verbunden war.

Ägypten etwa setze vor allem seit dem Putsch vom Juli 2013 „darauf, seine Außenbeziehungen zu diversifizieren und die Bündnispolitik eigenständiger zu gestalten“, schreibt die SWP; in den Konflikten der Region suche Kairo „weniger den Schulterschluss mit USA oder EU, sondern steht fest an der Seite Riads und Abu Dhabis“. „Mit Washington abgestimmt“ werde in den arabischen Hauptstädten „das jeweilige Vorgehen … kaum noch“. Ein Beispiel dafür: Die Staaten der Arabischen Halbinsel setzen beim Aufbau ihrer 5G-Netze trotz aller Proteste aus Washington auf Huawei; die emiratische Firma Group 42 (G42) stellt in Lizenz einen Covid-19-Impfstoff des chinesischen Konzerns Sinopharm her.

Syrien, Libyen, Jemen…
Dabei wird, wie die SWP festhält, „die proaktivere Außenpolitik“ der arabischen Staaten „von einer Militarisierung [begleitet], die sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass stärker als zuvor militärische Mittel genutzt werden, um Interessen durchzusetzen“.

Begonnen habe dies etwa in Syrien, wo Saudi-Arabien und Qatar „in den Anfangsjahren verschiedene Rebellengruppen“ unterstützt und so „erheblich“ dazu beigetragen hätten, „dass die militärischen Auseinandersetzungen eskalierten und der Aufstand sich radikalisierte“. Auch in Libyen hätten Qatar und die Vereinigten Arabischen Emirate „bereits seit 2011 Milizen“ unterstützt; die Emirate seien seit 2014 „auch direkt militärisch engagiert“, Ägypten „spätestens seit 2015“. Saudi-Arabien führe seit 2015, unterstützt vor allem von den Vereinigten Arabischen Emiraten, im Jemen Krieg und nehme dabei „hohe Opferzahlen in der jemenitischen Zivilbevölkerung … in Kauf“.

„Künftig droht die Außenpolitik in der Region weiter militarisiert zu werden“, warnt die SWP und verweist exemplarisch auf den ernsten Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien sowie darauf, dass Algerien mit einer Verfassungsänderung im November „den Einsatz seines Militärs auch außerhalb eigener Grenzen“ ermöglicht hat.

„Ausfuhrstopp erscheint folgerichtig“
Vor dem Hintergrund der Militarisierung der arabischen Außenpolitik rät die SWP dringend dazu, die „Rüstungsexportpolitik gegenüber arabischen Staaten grundsätzlich auf den Prüfstand [zu] stellen“ – schließlich bestehe „eine hohe Wahrscheinlichkeit“, dass „deutsche Rüstungsexporte militärische Auseinandersetzungen in der Region anheizen und so dazu beitragen, Europas Nachbarschaft zu destabilisieren“.

In der Tat lässt sich dies schon längst bestätigen. So werden deutsche Waffen etwa im Jemen-Krieg und im Libyen-Krieg eingesetzt, im ersteren Fall von den Streitkräften der von Saudi-Arabien geführten Kriegskoalition, im letzteren von den Milizen des ostlibyschen Warlords Khalifa Haftar, der von den Vereinigten Arabischen Emiraten, einem kauffreudigen Kunden deutscher Waffenschmieden, unterstützt wird. Da im Fall einer weiteren militärischen Eskalation zusätzlich zum „Tod zahlreicher Zivilistinnen und Zivilisten im Nahen Osten“ auch „erneute Fluchtbewegungen nach Europa“ zu befürchten seien, tue man gut daran, einen Kurswechsel in Betracht zu ziehen, urteilt die SWP: „Ein Stopp der Ausfuhr von Waffen und Rüstungsgütern in diese Länder erscheint … nur folgerichtig.“