(iz). Das Thema Politikverdrossenheit beschäftigt seit Jahren die Öffentlichkeit. Vor allem bei Einwanderern war die Quote bis dato im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung sehr gering. Doch dies scheint sich zu ändern. Die Beteiligung der türkischstämmigen Wahlberechtigten an den diesjährigen Bundestagswahlen war mit 70 Prozent deutlich höher als beim letzten Urnengang, bei der nur etwa 25 Prozent ihre Stimme abgaben. Dies ist das Ergebnis einer gemeinsamen repräsentativen Studie des Berliner Markt- und Meinungsforschungsinstituts Data 4U und des Zentrums für Migration und politische Wissenschaften der Hacettepe Universität Ankara (HUGO), bei der 2.244 Personen mit türkischstämmigen Wurzeln telefonisch befragt wurden.
Dr. Murat Erdoğan von der Hacettepe Universität präsentierte die Untersuchungsergebnisse im Rahmen einer Pressekonferenz in der Kölner Zentrale der „Union Europäisch-Türkischer Demokraten„ (UETD), die die Studie mit getragen hat. Gegenstand der Untersuchung waren neben der Wahlbeteiligung unter anderem die Parteipräferenzen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei. Die Studie wurde in elf Bundesländern durchgeführt. Unter den interviewten Türkeistämmigen besaßen 1002 Personen die deutsche Staatsbürgerschaft. 84 Prozent hatten nur den deutschen Pass. 16 Prozent besaßen zudem auch die Staatsangehörigkeit der Türkei. Erdoğan wies in seiner Präsentation darauf hin, dass es bis zum Zeitpunkt der Umfragen keine gesicherten Daten über das Stimmpotenzial türkischstämmiger Bürger in Deutschland gab. „In Deutschland gibt es 951.000 Wahlberechtigte mit Wurzeln in der Türkei. Das sind fast eine Million stimmen. Es ist wichtig für uns, dass wir dieses Potentials bewusst sind.
Die türkischstämmigen Personen in Deutschland, wo etwa 61 Millionen Wahlberechtigte leben einen Stimmanteil von umgerechnet 1,5 Prozent . Im neuen Bundestag sind 11 Abgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund vertreten. Im Vergleich mit den übrigen Abgeordneten würde das eine Vertretungsquote von 1,7 Prozent ergeben“, verdeutlichte der Wissenschaftler aus Ankara. Erdoğan fügte hinzu, dass nach der statistischen Erhebung 661.000 Personen mit türkischer Migrationsgeschichte an den Bundestagswahlen am 22. September teilnahmen. „Dies ist eine bedeutende Zahl“. Die Quote der weiblichen Wählerinnen lag bei 68 Prozent. Die männlichen Wähler dagegen lagen mit 72 Prozent leicht vor den Damen. 4 Prozent der Stimmberechtigten haben von der Briefwahl Gebrauch gemacht. 66 Prozent gaben ihre Stimme direkt an der Wahlurne ab.
SPD weit vor allen Parteien
Die Sozialdemokraten (SPD) scheinen bei den türkischstämmigen Wählerinnen und Wählern noch immer hoch im Kurs zu sein. Mit 64 Prozent gaben die meisten dieser Partei ihre Stimme, was in absoluten Zahlen 425.000 Stimmen entspricht. Grüne und Linkspartei lagen mit jeweils 12 Prozent (80.000 Stimmen) gleichauf. Die Christdemokraten (CDU) steigerten ihr Ergebnis im Gegensatz zur letzten Bundestagswahl von fünf auf sieben Prozent (45.000 Stimmen). Für das „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“ (BIG), eine Vereinigung hauptsächlich bestehend aus Einwanderern, entschieden sich drei Prozent (24.000 Stimmen) der türkischstämmigen Wahlberechtigten. Die übrigen Parteien kamen zusammen lediglich auf zwei Prozent.
Türkeipolitik und Verhalten bei Gezi-Park-Protesten beeinträchtigten die Wahl
Murat Erdoğan, Forschungsleiter der repräsentativen Studie wies überdies auf den Zusammenhang der Türkeipolitik der Parteien und der Stimmverteilung hin. Für 40 Prozent der wahlberechtigten Deutsch-Türken hätte die Türkeipolitik der jeweiligen Partei eine entscheidende Rolle bei der Stimmabgabe gespielt. Die Grünen hätten zum Beispiel massiv an Zustimmung verloren, da sie die Gezi-Proteste aktiv unterstützt hätten. Zudem herrsche bei vielen türkeistämmigen Stimmberechtigten den Eindruck vor, dass die Grünen eine „Alevitenpartei“ geworden seien, bei der fast alle türkischstämmigen Personen auf der Leitungsebene alevitische Wurzeln besäßen. Dies habe laut Erdoğan dazu geführt, dass die Grünen von 28 Prozent bei der vorigen Bundestagswahl auf jetzt 12 Prozent fielen.
Süleyman Çelik, Chef der UETD, bedankte sich besonders bei der türkischen Presse, die gemeinsam mit etwa 40 Organisationen und Vereinen eine „Aufrufinitiative zur Bundestagswahl„ unterstützt hatten. Der Chef der Lobbyorganisation zeigte sich überwältigt von der Wahlbeteiligung: „Mit so einem Ergebnis haben wir schlicht und einfach nicht gerechnet. Es gingen fast doppelt so viele türkeistämmige Menschen zur Bundestagswahl als wir erwartet haben“, sagte Çelik. Die UETD hatte 500.000 Broschüren drucken lassen und zahlreiche Informationsveranstaltungen zur Teilnahme an der Bundestagswahl organisiert.
AKP liegt in der Wählergunst der Deutsch-Türken immer noch an erster Stelle
Den 2244 Interviewten wurde auch die Frage gestellt, welcher Partei sie in der Türkei ihre Stimmen gäben, falls gewählt würde. 58 Prozent entschieden sich für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Republikanische Volkspartei (CHP) unter Kemal Kılıçdaroğlu käme auf 26 Prozent der Wählerstimmen. Die Nationalistische Bewegungspartei (MHP) käme mit 4 Prozent nicht mehr in das Parlament. Auch die Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die besonders unter kurdischstämmigen Türken beliebt ist, würde mit 5 Prozent an der Zehn-Prozet-Hürde scheitern. Von allen Befragten fühlten sich außerdem 40 Prozent in Deutschland zu Hause.
Autoreninfo: Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?“ sowie „nach-richten: Muslime in den Medien“. Die Themenschwerpunkte von Yasin Baş sind: Türkisch-Deutsche Beziehungen, Ethnomarketing, Integrations-, Migrations- und Sicherheitspolitik sowie Deutsche Geschichte (nach 1871).