Rückblick auf 2025: Ein Jahr zwischen Teilhabe, Stigmatisierung und dem Schweigen der Mitte.
(iz). Die Vereinten Nationen haben im Rahmen des vierten High-Level-Meetings der UN-Generalversammlung zur Prävention und Kontrolle nichtübertragbarer Krankheiten (NCDs) am 25. September 2025 erstmals die psychische Gesundheit zentral in den Fokus gerückt – und sie ausdrücklich schweren chronischen Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen gleichgestellt. Einsamkeit, Depressionen und Burnout sind längst globale Probleme.
Wer auf das Jahr 2025 zurückblickt, versteht warum: Neben den großen Krisen treten politische Akteure auf, die einfache Lösungen propagieren. Die Abkehr von wissenschaftlichen Standards und die Rückkehr zum Nationalismus verspricht wenig Gutes.
Die Stimmung, die den Niedergang demokratischer Gesellschaften heraufbeschwört, wirkt auf alle Bevölkerungsschichten – unabhängig von sozialem Hintergrund oder Konfession. Für Religionsgemeinschaften bedeutete das die Herausforderung, trotz wachsender seelischer Not Zuversicht zu vermitteln.
2025 war für viele europäische Muslime ein Jahr der Ambivalenz. Auf den ersten Blick wuchs ihre gesellschaftliche Teilhabe: Sie beteiligten sich sichtbarer an Wahlen, nahmen stärker an öffentlichen Debatten teil und gründeten neue zivilgesellschaftliche Initiativen.
Gleichzeitig verschärften sich alte Muster der Stigmatisierung – befeuert durch globale Konflikte, sicherheitspolitische Debatten und eine rechte Rhetorik, die den Islam kollektiv zur Bedrohung erklärt. Es war ein Jahr, das sich als „Doppelspul-Effekt“ beschreiben lässt: Fortschritt und Rückschritt liefen parallel, verwoben und ohne sich gegenseitig aufzuheben.
Nicht zu übersehen ist die große Zahl von Einbürgerungen, die belegen, dass sich ein Großteil der zugewanderten Muslime in Deutschland wohl fühlt. Eine Sonderauswertung des Vielfaltsbarometers 2025 der Robert Bosch Stiftung zeigt: Menschen mit Migrationshintergrund bewerten den Zustand der deutschen Gesellschaft insgesamt positiver als Menschen ohne Migrationshintergrund.
Sie schätzen die wirtschaftliche Lage günstiger ein und haben mehr Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik. Bedenklich bleibt jedoch, dass sich fast drei Viertel von ihnen diskriminiert fühlen – vor allem aufgrund ihres Aussehens, Akzents oder ihrer Kleidung.
Zugleich zeigen diskriminierte Menschen mit Migrationshintergrund höhere Akzeptanzwerte gegenüber anderen marginalisierten Gruppen als Personen ohne Migrationshintergrund.

Grafik: IZ (Foto: Adobe Stock)
Rückblick 2025: Sichtbarkeit an der Wahlurne, Unsichtbarkeit im Regierungsvertrag
Politisch war 2025 ein Schlüsselmoment für die in Deutschland lebenden Muslime. Die Bundestagswahl machte erstmals klar, wie relevant muslimische Wählerinnen und Wähler geworden sind – insbesondere in Großstädten, wo ihr Stimmenanteil bis zu sieben Prozent erreichte. Viele entschieden sich für Parteien links der Mitte, geleitet von Werten wie Gerechtigkeit, sozialer Verantwortung und Antidiskriminierung.
Der politische Ertrag blieb dennoch gering: Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD fanden muslimische Belange so gut wie keine Erwähnung. Für Organisationen wie den Zentralrat der Muslime bestätigte das ein verbreitetes Gefühl: politisch sichtbar, wenn Stimmen gebraucht werden – unsichtbar, wenn es um Mitgestaltung geht.
Europaweite Debatten über Radikalisierung und den „politischen Islam“ verschärften die Situation zusätzlich. Anschläge mit muslimischer Beteiligung lösten Sicherheitsmaßnahmen aus, begleitet von medialen Generalisierungen.
Der Extremfall verdrängte die Anerkennung alltäglicher Beiträge von Muslimen. Viele, die sich seit Jahren von radikalen Rändern abgrenzen, sprechen von einer „normativen Umkehrung“: Sie fühlen sich behandelt wie potenzielle Täter statt als Bürgerinnen und Bürger. Missverständliche Äußerungen von Bundeskanzler Merz zum „Stadtbild“ verstärkten den Eindruck.
Zugleich wirkten globale Konflikte wie Gaza tief in muslimische Diaspora-Communities hinein. Friedliche Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen gegenüber den Palästinensern stießen oft auf ein Klima der Überwachung. Muslime kritisierten doppelte Standards und den Zerfall des internationalen Völkerrechts – ein Ausdruck ihres transnationalen Denkens: lokal verwurzelt und global betroffen.

Foto: KRM
Gesellschaft: Zwischen Basisarbeit, Panikmache und interreligiösen Brücken
2025 erlebte eine wachsende muslimische Zivilgesellschaft. Neue Moscheen, Jugendhilfevereine, Bildungsinitiativen und Demokratieförderungsprojekte entstanden in zahlreichen Städten. Podiumsdiskussionen zeigten, welche Verantwortung muslimische Akteure im Alltag übernehmen – im Sportverein ebenso wie im Sozialdienst.
Die Robert Bosch Stiftung verwies Anfang 2025 auf den wirtschaftlichen Erfolg muslimischer Unternehmerinnen und Unternehmer und die hohe demokratische Bildung von Muslimen. Solche positiven Meldungen gehen im öffentlichen Diskurs jedoch oft unter. Stattdessen dominieren alarmistische Erzählungen.
Islamfeindliche Übergriffe nahmen zu: Ein Imam wurde in London niedergestochen, eine Moschee in East Sussex brannte nach einem Anschlag, muslimische Mädchen wurden Opfer von Attacken.
In Deutschland und Frankreich stieg die Anzahl von Hassposts nach kursierenden Memes oder Kommentaren zur geopolitischen Lage. Parallel verbreiteten rechte Akteure demografische Panikszenarien einer vermeintlichen „Islamisierung Europas“, die als Begründung für Remigrationsforderungen und Zuwanderungsstopps dienten.
Gleichzeitig bot das Jahr seltene Momente des Dialogs. Durch die zeitliche Überlappung von Ramadan und christlicher Fastenzeit entstanden interreligiöse Initiativen, die zeigten, dass Europa mehr verbindet als trennt.
Konferenzen wie „Digital Islam across Europe“ oder „Europe’s Muslim Question“ erinnerten an die Beiträge des Islams zur europäischen Renaissance – und zeichneten das Bild einer Religion, die integraler Bestandteil des Kontinents ist.
Künftig wird es entscheidend sein, dass Religionsgemeinschaften gemeinsam ihre Positionen zu technologischer Innovation – von künstlicher Intelligenz bis Biotechnologie – klar formulieren.
Auch in diesem Jahr gelang es der muslimischen Community selten, Debatten jenseits politischer Fragen anzustoßen. Die Vielfalt einer ganzheitlichen Lebenspraxis stärker in die Öffentlichkeit zu tragen, bleibt daher eine zentrale Aufgabe.

Foto: Deutscher Bundestag / Thomas Köhler / photothek
Speerspitzenlogik der Rechten: Wie Extremisten zu Stellvertretern gemacht werden
2025 zeigte erneut, wie stark rechte Narrative davon leben, Muslime zu homogenisieren. Die „Speerspitzenlogik“ – radikale Minderheiten als Vorhut eines angeblichen Gesamtislam zu inszenieren – funktionierte wirkungsvoll. Die Logik ist so einfach wie wirkungsvoll: Straftaten einzelner Muslime werden der Religion an sich zugerechnet.
Rechte Influencer und AfD-nahe Stimmen erklärten Extrembeispiele zum Normalfall, verknüpften kulturelle Bedrohungsbehauptungen mit verzerrten demografischen Prognosen und schufen so ein Klima der Angst, das weit über ihre eigenen Milieus hinauswirkte.
Dabei ignorierten sie bewusst die empirische Realität: Die überwältigende Mehrheit der Muslime in Europa lehnt Gewalt ab, lebt demokratische Werte und ist gesellschaftlich eingebunden.
Auch Muslime stimmen der Haltung, Straftätern, die das Gastrecht in Deutschland ausnutzen auszuweisen, zu. Immerhin, in der AfD gab es im Jahr 2025 vereinzelte Stimmen, die langsam zu einer Differenzierung bereit sind. Wer am gesellschaftlichen Frieden interessiert ist, wird zustimmen, dass auf Dauer die Ausgrenzung einer bedeutenden Minderheit kaum möglich sein wird.
Das Kernproblem 2025: Die Verstummung der muslimischen Mitte
Das bedeutendste Phänomen spielte sich jedoch innerhalb der muslimischen Community ab: die stille Erosion der politischen und religiösen Mitte. Populismus ist kein Phänomen, das nur in der Mehrheitsgesellschaft zu finden ist. Die radikalen Ränder – salafistische Prediger, Hizb-ut-Tahrir-Aktivisten oder pro-Hamas-Stimmen – erzielen in sozialen Medien enorme Reichweiten, moderate Stimmen blieben dagegen nahezu unsichtbar.
Medien griffen bevorzugt extreme Beispiele auf, während alltägliche Predigten gegen Gewalt und Polarisierung kaum Beachtung fanden. Muslimische Verbände gerieten von zwei Seiten unter Druck: Rechtsradikale warfen ihnen „Taqiyya“ vor, während radikalisierte Jugendliche sie als „inkonsequent“ kritisierten. Viele Imame und Gemeindevertreter zogen sich daher bei kontroversen Themen zurück – aus Angst vor Angriffen von beiden Seiten.
Das Ergebnis ist ein gefährlicher Teufelskreis: Je leiser die Mitte, desto lauter erscheinen die Extreme. Und je dominanter Extremisten wahrgenommen werden, desto stärker frustriert oder entfremdet sich die moderate Mehrheit.
Besonders die junge Generation, geprägt von Influencern im Netz und enttäuscht von traditionellen Verbänden, sucht neue Identitäten – oft zwischen Polarisierung und Rückzug.

Foto: DITIB.org
Ausblick: Die Wahl zwischen Polarisierung und Partnerschaft
2025 machte deutlich, dass die Zukunft europäischer Muslime nicht allein von Islamfeindlichkeit oder internen Konflikten abhängt, sondern von der Fähigkeit, die moderate Mitte zu stärken. Dafür braucht es neue Plattformen für nüchterne Stimmen, faire politische Debattenregeln und unabhängige Förderung innovativer Bildungs- und Jugendprojekte.
Europa steht vor einer Entscheidung: Bleiben die Muslime Projektionsfläche für Ängste und Identitätskämpfe – oder werden sie, als das anerkannt, was sie längst sind: ein vielfältiger, dynamischer und demokratischer Teil Europas?
Muslime haben 2025 gezeigt, dass sie diese Zugehörigkeit leben wollen. Was fehlt, ist ein gesellschaftlicher Raum, der ihnen zuhört. Denn die wichtigste Stimme des Jahres war nicht die der Lauten – sondern die derjenigen, die kaum noch Gehör finden: die muslimische Mitte.