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Staatsräson oder „Kaufkraft“?: Macron contra Le Pen, die Zweite

Foto: Victor Joly, Shutterstock

Für Europa wäre die Entscheidung klar – nicht aber für die Franzosen. Amtsinhaber Macron ist kein unbeschriebener Hoffnungsträger mehr, sondern im Establishment angekommen. Le Pen sammelt gezielt die Unzufriedenen ein. Von Alexander Brüggemann

Paris (KNA). Wo bitte geht’s hier zum Volk? – Die Kandidaten, ja die Politik in Frankreich tut sich immer schwerer, die Wähler zu erreichen. Der Überdruss an der „politischen Klasse“ ist in den vergangenen Jahren so groß geworden, dass inzwischen eine Mehrheit der Franzosen im ersten Wahlgang für extreme Kandidaten stimmte. Bürgerliches Lager und Sozialisten wurden regelrecht pulverisiert.

So heißt die Entscheidung der Franzosen für die Stichwahl ein zweites Mal: Emmanuel Macron oder Marine Le Pen. Der Amtsinhaber präsentiert sich als seriöser Staatsmann, Faktenkenner und Lokomotive der EU. Le Pen beschwört das „gute alte Frankreich“ und seine Souveränität. Sie schimpft auf die EU mit ihren Zumutungen und auf Einwanderer mit muslimischem Schleier – den sie im öffentlichen Raum verbieten will. Aus anderen gesellschaftsethischen und religiösen Fragen hält sie sich weitgehend heraus.

Im einzigen TV-Duell der beiden Kandidaten am Mittwochabend warnte Macron, Le Pens Kopftuchverbot würde „den Bürgerkrieg in die Vorstädte“ tragen. Zudem wäre es verfassungswidrig; der Laizismus bedeute Neutralität und sei nicht ein Kampfinstrument gegen eine bestimmte Religion.

In dem zunächst weitgehend sachorientierten Schlagabtausch wurde es gegen Ende doch zunehmend hitzig. Le Pen nennt ihre Gegner gern „Kandidaten der Rotarier und Golf-Clubs“. Macron seinerseits traf die vielleicht schwächste Stelle seiner Rivalin: „Wenn Sie über Russland sprechen, sprechen Sie über Ihren Geldgeber“, sagte er mit Blick auf einen Millionenkredit, den Le Pen 2014 von einer staatsnahen russischen Bank bekommen hatte.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine: für beide ein Thema, um zu punkten. Macron, weil er die europäische Friedensordnung vertritt und lange Zeit versuchte, den Kriegsherrn Wladimir Putin im persönlichen Gespräch umzustimmen. Und Le Pen, weil der Krieg die Inflation und damit ihr Hauptthema im Wahlkampf befeuert: die Verlustängste der Franzosen. „Kaufkraft“, das war bis zuletzt ihr Zauberwort.

Ersten Umfragen zufolge hat Macron zwei von drei Wählern im TV-Duell am Mittwoch stärker überzeugt. Immerhin: Eine öffentliche Demontage der Herausforderin wie 2017 hat sich nicht wiederholt. Das Duell vor fünf Jahren war ein Debakel für Le Pen, die schlecht vorbereitet war und ein ums andere Mal in Macrons Fakten-Falle rannte. Diesmal wirkte sie deutlich besser präpariert.

Klar ist: Wer die 53-jährige Rechtspopulistin verhindern will, wird Macron wählen. Doch: Immer weniger Franzosen wollen Le Pen verhindern. Die traditionellen Wählermilieus sind gefallen. So votierten auch immer mehr enttäuschte und mit der Globalisierung fremdelnde Katholiken für den rechtsextremen Rassemblement National oder andere Rechtsradikale – über Jahrzehnte ein No-go. Auch Frankreichs Katholiken stimmten im ersten Wahlgang erstmals mehrheitlich für extreme Kandidaten, vor allem für die extreme Rechte. In früheren Wahlen hatten sie stets eher bürgerlich gewählt und waren unter dem Landesdurchschnitt für extreme Kandidaten geblieben.

Während sich die katholischen Bischöfe nur sehr weich zum zweiten Wahlgang äußerten, haben sich die Protestanten klar für Macron und gegen Populismus positioniert. Und noch klarer die Repräsentanten der rund sechs Millionen Muslime im Land. Le Pen, die erklärte Gegnerin von Globalisierung, „Überfremdung“ und Multikulturalismus, ist für sie schlicht nicht wählbar.

Die letzten Umfragen sahen Macron auch diesmal relativ deutlich vor seiner Herausforderin. Allerdings ist der Vorsprung stark geschmolzen; und immer noch sind viele Franzosen unentschieden. Noch könnten Störfeuer wie jenes gefälschte vermeintliche Macron-Zitat verfangen, das zu Wochenbeginn via Twitter durch die Medien rauschte: Europa müsse sich wegen der Russland-Sanktionen auf bis zu 60 Millionen Flüchtlinge einstellen.

Vor fünf Jahren hatte sich der junge Aufsteiger Macron, Ex-Wirtschaftsminister und früherer Investmentbanker, als „Gegner des Establishments“ kurzfristig neu erfunden. Inzwischen ist er definitiv selbst Teil davon. Auch in Frankreich hat die Gesellschaft durch Gelbwesten-Bewegung, Corona-Pandemie und Kriegsgefahr in Europa an gefährlicher Dynamik gewonnen. Für viele Franzosen scheint inzwischen das am wichtigsten geworden: Weg mit dem Establishment!