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„Die Tagespolitik frisst die Seele auf“

Ausgabe 367

Tagespolitik
Foto: Neue Pinokothek/Wikimedia Commons | Lizenz: gemeinfrei

Jenseits der Tagespolitik im Jahre 2025. Über die Herausforderung, in einem stocksteifen Land westöstlich zu dichten.

(iz). „Deine Eltern sind bestimmt Akademiker? Als was arbeiten sie?“ – Diese Fragen höre ich seit meiner Studienzeit immer wieder. Einer meiner Lieblingssätze war der einen angehenden Juristin: „Niemand von uns kann es glauben, dass du derjenige bist, der solche Gedichte schreibt.“

In solchen Aussagen steckt ein Menschenbild, das den Europäer als fähig zu Kunst und Kultur betrachtet, aber Menschen mit Migrationshintergrund, alles muslimisch Gelesene, als unkultiviert ansieht. Immer wieder höre ich auch nach der Veröffentlichung meiner Gedichtsammlung „Der deutsche Diwan“ die scheinbar überraschende Feststellung: „Sie sprechen aber gut Deutsch.“ – 

Danke, Sie nicht. Sie sprechen wie Wieland, Goethe und Heine bereits feststellten nur stocksteif und herzlos: „Noch immer das hölzern pedantische Volk, / Noch immer ein rechter Winkel / In jeder Bewegung, und im Gesicht / Der eingefrorene Dünkel. // Sie stelzen noch immer so steif herum, / So kerzengrade geschniegelt, / Als hätten sie verschluckt den Stock / Womit man sie einst geprügelt.“ – Das sind die Deutschen, die Heine beschreibt und Wieland in seinem Roman „Die Geschichte der Abderiten“ karikiert.

Inmitten dieser Gesellschaft wurde ich nun zum Westöstlichen Poeten und greife das Erbe deutscher Klassiker auf. Denn Deutschland selbst tut es nicht. Mehr als archivieren und neu auflegen scheint die Gesellschaft nicht zu können. Ich wurde deshalb zum Poeten, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, mich wie Heine von einem pedantischen Volk, das hölzern und stocksteif ist, prügeln zu lassen in der Öffentlichkeit.

Stattdessen dichte ich und erlange eine Freiheit, die vielen in unserer Gesellschaft leider fremd ist: „Frei will ich sein im Dichten und im Denken, / Im Handeln schränkt die Welt genug uns ein.“ – Wer sagte es? Ja, wer? Der Goethe in seinem Torquato Tasso. Aber mehr als Faust und Werther kennt die deutsche Gesellschaft von ihrem bedeutendsten Dichter und Denker, der zugleich Staatsmann und Biologe war, nicht. 

Inmitten dieser mangelnden Bildung wurde ich Dichter, um die Gesellschaft an ihre literarische Größe zu erinnern. Es ist möglich auf Deutsch herzlich zu sprechen, es ist möglich auf Deutsch, über Gefühle, Vernunft und Mitmenschlichkeit zu sprechen. In einer Zeit, in der jeder Gefühlsausdruck als „Gefühlsduselei“ bezeichnet wird, ist es eine Revolution, seine Wahrnehmung des Lebens künstlerisch auszudrücken.

Alle Arten von Menschen bezeichnen Kunst und Kultur als Luxus, auf den verzichtet werden kann. Was sie damit zu Wort bringen, ist ihr mangelndes Bewusstsein darüber, das Kunst und Kultur uns menschlicher machen können und sollen.

Die Tagespolitik frisst die Seelen der Menschen auf – ob Muslim, Christ, Jude oder Atheist. Tagespolitik zu verfolgen und zu funktionieren, sich selbst zu Wort zu melden; das gilt als realistisch.

Was haben die Menschen, die es seit 15 Jahren tun, aus unserer Welt gemacht? Erinnern wir uns an die Journalisten der Goethezeit oder an die Künstler? Wer hinterlässt die zeitlosen Werke, die Menschen zum Erstaunen bringen? Werke, die der Stolz einer Nation oder Gesellschaft sind? Diese rhetorischen Fragen sind der Grund, warum ich zum Poeten wurde. 

Meine Eltern sind einfachste Arbeiter in Küche und Werkstatt. Ihr Sohn wurde ausgelacht für sein schlechtes Deutsch und als Reaktion ging er in die Lehre bei Goethe. Und nun vermittelt ihr Sohn Goethes Denkstil. Und das ist nur möglich, wenn man selbst Gedichte macht, wie Goethe es nennt: Konsum muss zur Kreativität führen.

Das schreibt mein Mentor aus einer scheinbar fernen Vergangenheit. Ich wurde ausgelacht, werde noch immer zuweilen beleidigt, aber auch bewundert und eingeladen, denn Kunst und Kultur sind anziehend. In Kunst und Kultur werden menschliche Erfahrungen des Tagesgeschehens innerlich verarbeitet und verewigt.

Künstlerisch und kulturell tätig zu sein, ist der Ausdruck einer reichen Seele, die ihre bewahrt. Als Sohn von Migranten haben mir Kunst und Kultur meine Freiheit zurückgegeben.

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