Tunesien: Interview mit Rachid el-Ghannouchi. Interview: Tahir Chaudhry

Ausgabe 201

(iz). Bei uns wäre so etwas undenkbar: Eine Gruppe ausländischer Studenten geht – mehr oder weniger – unangekündigt in die Zentrale der siegreichen Partei und will ihren Vordenker treffen. Unwahrscheinlich. Einer kleinen Schar deutscher Studenten ist es gelungen, den langjährigen Vordenker der tunesischen Ennahda-Bewegung Rachid el-Ghannouchi zu treffen. Anbei dokumentieren wir Teile dieser spontanen Begegnung.

Islamische Zeitung: Welche Rolle spielt Deutschland in den internationalen Bezie­hungen Tunesiens?

Rachid el-Ghannouchi: Uns verbindet mit Deutschland eine sehr gute Freundschaft. Dementsprechend sind die Beziehungen sehr solide. Deutschland ist für die ­Investitionen, den Tourismus, die Bildung etc. in Tunesien sehr wichtig. (…) Deutschland ist unser zweitwichtigster Markt im Tourismusbereich.

Leider baut Deutschland seine Beziehungen mit Tunesien oft über Frankreich aus. Ich ­denke, Deutschland hat es nicht nötig, mit uns über Frankreich zu verhandeln oder seine Sicht zu Tunesien durch Frankreich bestimmen zu lassen. Daher hätten die deutschen Regierun­gen eine andere Haltung zu der ­langjährigen Diktatur in unserem Lande nehmen sollen, als die die französischen Regierungen genom­men haben.

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[Rachid el-Ghannouchi lässt sich sehr viel Zeit. Er spricht langsam. Die 15 Minuten kommen uns erstaunlich kurz vor.]

Islamische Zeitung: Wie schätzen Sie die Reaktion der EU ein?

Rachid el-Ghannouchi: Die EU ergriff ­keine Maßnahmen gegen die Diktatur Ben Alis. Alle deutschen Regierungen schwiegen über Ben Alis undemokratische und korrupte ­Ma­chenschaften. Gerade von Deutschland, das unter einer schlimmen Diktatur litt, hätte ich Solidarität während unserer Diktatur ­erwartet. Denn wir haben nicht weniger gelitten als die Deutschen.

Islamische Zeitung: Wollen Sie etwa den Nationalsozialismus mit Ben Alis Diktatur vergleichen?

Rachid el-Ghannouchi: Ich möchte anmer­ken, dass die EU sehr zögerlich auf die Ereignisse in Tunesien reagierte, als ob sie die französische Entscheidung gegenüber der tunesischen Revolution abwarten wollte. Aller­dings möchte ich auch dankbar erwähnen, dass Deutschland vielen Ennahda-Aktivisten während der Diktatur Asyl gewährte.

Ferner hat Deutschland im Gegensatz zu ­anderen unsere Aktivisten nicht an Ben Ali ­ausgeliefert. In diesem Zusammenhang erin­nere ich mich an einen Vorfall in Deutschland: Mitte der Neunziger Jahre haben die deutschen Behörden mehrere unserer Aktivis­ten, die Ben Ali auf die Interpol-Liste setzen ließ, festgenom­men. Dann warteten sie 40 Tage vergeblich auf die von der tunesischen Regierung geforderten Akten mit den Ankla­gepunkten. Am Ende mussten sie unsere Leute frei ­lassen.

Islamische Zeitung: Ihr Ministerpräsident, Hammadi Jebali, beschrieb den Sieg der Ennahda in den letzten Wahlen als Beginn des 6. Rechtgeleiteten Khalifats. Glauben Sie, dass das mit den Grundsätzen einer modernen Demokratie konform ist?

Rachid el-Ghannouchi: Ja, das Kalifat-System ist mit den Grundsätzen einer ­modernen Demokratie konform, denn alle Kalifen [Abu Bakr, Umar, Uthman, Ali und Umar Ibn Abd al-Aziz] wurden vom Volk gewählt. (…) Abgesehen davon weiß der Ministerpräsident, dass Ennahda eine nationale ­Partei ist, die keinerlei panarabische noch pan-islamische Bestrebungen hat. Unser Programm ist ein Programm für ein nationales System und kein panarabisches oder pan-islamisches Programm eines Kalifat-Systems.

Islamische Zeitung: Wie stehen Sie zur Tahrir-Partei und anderen salafistischen Bewegungen?

Rachid el-Ghannouchi: Sie sind islamische Parteien. Wir sind mit ihnen einig über den Islam, den Qur’an und die Sunna. Im Islam gibt es kein Monopol auf den Glauben.

Allerdings teilen wir ihre Ansicht nicht, dass Demokratie eine Sünde sei, oder dass laizistische Parteien verboten werden müssten. Trotz allem haben sie das Recht auf freie ­Meinungsäußerung. Folglich werden wir Parteien zulassen, solange keine Gewalt von ihnen ausgeht.

Islamische Zeitung: Finden Sie die Freizügigkeit und liberalen Lebensstil vieler Tunesier/innen unmoralisch?

Rachid el-Ghannouchi: Es gibt keine ideale Gesellschaft. Die Moral kann und darf nicht staatlich durchgesetzt werden, denn es ist die Gesellschaft selbst, die ihre Werte bestimmt. Vielmehr wäre es unmoralisch, die Moral staatlich festlegen zu wollen.

Islamische Zeitung: Vielen Dank für das Interview, Herr Ghannouchi.