Das Heilige jenseits der Machtfragen: Wofür wird Religion noch gebraucht?
(iz). Religionskritik hat in den letzten Jahrzehnten einen paradoxen Erfolg errungen: Sie hat den öffentlichen Diskurs über Religion politisiert – und ihn damit verengt. Was ursprünglich ein menschliches Grundphänomen mit metaphysischen, epistemologischen, ethischen und kosmologischen Dimensionen ist, erscheint heute fast ausschließlich unter dem Blickwinkel politischer Macht, gesellschaftlicher Konflikte oder normativer Identitätsfragen. Religion wird damit zu einem Unterfall politischer Ideologie, statt als eigenständige Weise des Welt- und Selbstverhältnisses verstanden zu werden.
Diese Verschiebung ist nicht zufällig. Sie ist das Resultat einer langen Genealogie, die von der aufklärerischen Entzauberung der Welt über den Marxismus bis zu zeitgenössischen Formen der Ideologiekritik reicht.
Das Heilige und die Macht: Religion wurde zunehmend als Herrschaftsinstrument interpretiert
Religion wurde zunehmend als Herrschaftsinstrument, als Ausdruck sozialer Verhältnisse oder als kulturelles Abwehrdispositiv interpretiert. In dieser Perspektive verliert sie ihren Eigenwert und erscheint nur noch als Funktion historischer Machtkonstellationen.
Doch gerade im Triumph dieser Sichtweise liegt ein Verlust begründet: Die ganzheitliche Dimension religiöser Praxis und Erfahrung gerät aus dem Blick.
Diese Politisierung ist längst nicht mehr nur ein analytischer Blick von außen, sondern prägt zunehmend die Religionspraxis selbst. In vielen Teilen der Welt haben sich religiöse Traditionen mit nationalistischen Projekten, identitären Abwehrkämpfen und machtpolitischen Interessen verbunden.
Religion erscheint dann nicht mehr als Kritik der Macht, sondern als deren kulturelle Verstärkung. Wo religiöse Symbole zur Markierung kollektiver Feindbilder dienen, wird der metaphysische Horizont durch territoriale und ethnische Grenzziehungen ersetzt. Die spirituelle Suche nach Wahrheit verengt sich zur Verteidigung von Zugehörigkeit.

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Deutungsangebote für das Ganze des Wirklichen
Religiöse Traditionen haben über Jahrtausende nicht primär politische Programme formuliert, sondern Deutungsangebote für das Ganze des Wirklichen entworfen – für Geburt und Tod, Schuld und Vergebung, Sinn und Leid, Zeit und Ewigkeit.
Sie artikulierten Ordnungen, in denen das Vereinzelte des menschlichen Lebens auf eine übergreifende Einheit bezogen wurde: in metaphysischen Prinzipien, symbolischen Kosmologien, kultischen Zeitstrukturen und spirituellen Übungswegen. Diese Ordnungen waren nicht bloß abstrakte Theorien, sondern verkörperte Weltverhältnisse, in denen Denken, Handeln und Empfinden ineinandergriffen.
Mit der gegenwärtigen Reduktion auf politische Lesarten verschwindet diese existenzielle Tiefendimension nahezu vollständig. Zugleich greift eine eigentümliche Arbeitsteilung um sich: Religion gilt in ihrer politischen Dialektik als potenziell gefährlich und wird deshalb in den privaten Raum verwiesen. Öffentliche Gestaltungsmacht, so lautet der implizite Konsens, soll allein säkularen Institutionen zukommen.
Privatisierung von Religion steht im Widerspruch zu Herausforderungen
Doch diese Privatisierung steht in einem auffälligen Widerspruch zu den Herausforderungen der Gegenwart. In Fragen der Biotechnologie, der künstlichen Intelligenz, der ökologischen Transformation oder der globalen Gerechtigkeit geht es längst nicht nur um technische Machbarkeit, sondern um Maßfragen sowie um das Bild des Menschen und um Vorstellungen von Verantwortung.
Gerade hier wären religiöse Traditionen gefordert, sich einzumischen – nicht als politische Akteure unter anderen, sondern als jahrhundertealte Speicher ethischer, kosmologischer und anthropologischer Reflexion.
Ebenfalls unbeachtet bleiben dadurch die vielschichtigen Verflechtungen von Religion mit Philosophie, Ökonomie und Technik. Philosophisch war Religion über Jahrtausende der Träger und Motor grundlegender Reflexionen über Sein, Erkenntnis, Maß und Ziel.
Die großen metaphysischen Systeme der Antike und des Mittelalters sind ohne ihre religiösen Quellen nicht denkbar; selbst die Moderne definiert sich noch im Widerstreit mit diesen Denktraditionen. Religion war nicht bloß Gegenstand philosophischer Kritik, sondern deren ursprünglicher Nährboden.

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Ökonomie und die Religion
Ökonomisch strukturierte Religion Formen des Tausches, der Gabe, der Schuld und der sozialen Bindung, lange bevor moderne Marktmechanismen und staatliche Institutionen diese Funktionen übernahmen.
Tempel, Klöster und Kirchen waren nicht nur Orte des Kultes, sondern auch Knotenpunkte von Produktion, Distribution und Fürsorge. Religiöse Ethiken prägten Vorstellungen von Arbeit, Reichtum, Maßhalten und Verantwortung und wirken – oft unsichtbar – bis in gegenwärtige Wirtschaftskulturen fort.
Und technisch war Religion von der Monumentalarchitektur über die Buchkultur bis zur Medientechnik eine treibende Kraft symbolischer Welterschließung. Kathedralen, Ritualobjekte, Ikonen, Schriftmedien und liturgische Inszenierungen waren frühe Hochformen einer Technik des Sichtbarmachens des Unsichtbaren.
Auch moderne Bild- und Kommunikationstechnologien stehen, bei aller funktionalen Entzauberung, noch in dieser Traditionslinie.
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Zusammenhänge werden nivelliert
Die reduktive Religionskritik unserer Gegenwart nimmt diese Zusammenhänge kaum noch wahr. In ihrer Fixierung auf Machtanalysen und Diskurskämpfe verliert sie ausgerechnet das aus dem Blick, was Religion – jenseits aller dogmatischen Verhärtungen – philosophisch und kulturell bedeutsam macht: ihren Versuch, eine umfassende, sinnstiftende Ordnung des Wirklichen zu entwerfen, die den Menschen nicht nur politisch positioniert, sondern existenziell orientiert.
Doch auch die Religionen selbst können sich dieser Diagnose nicht entziehen. Wenn sie ihre gesellschaftliche Relevanz jenseits von Identitätspolitik und Machtallianzen zurückgewinnen wollen, genügt es nicht, auf äußere Missverständnisse zu verweisen.
Erforderlich ist eine innere Transformation: eine bewusste Distanzierung von der eigenen Politisierung und eine Rückbesinnung auf jene Dimensionen, in denen Religion historisch wirksam war – als philosophische Sinnsuche, als ökonomische Ethik des Maßes und der Verantwortung, als kulturelle Form der Weltdeutung jenseits bloßer Zweckrationalität.
Damit verliert der moderne Diskurs nicht nur einen Gegenstand, sondern eine Dimension des Denkens. Wo Religion nur noch als politisches Risiko oder als Identitätsmarker erscheint, verschwindet die Frage nach dem Ganzen, nach dem letzten Grund, nach dem Maß menschlicher Existenz.
Die Welt wird erklärbar, aber nicht mehr deutbar; sie wird funktional, aber nicht mehr sinnvoll. Was bleibt, ist eine Rationalität ohne Transzendenz, eine Politik ohne metaphysischen Horizont – und ein Mensch, der sich selbst nur noch als Produkt historischer Kräfte versteht, nicht mehr als Wesen, das auf Sinn, Wahrheit und Ganzheit hin entworfen ist.