Trennung und Scheidung sind Islam unbeliebt, aber erlaubt. Wir berichten, wie eine Familie leichter durch sie kommt.
(iz). Als Tamara Poeschke im Rückblick spricht, setzt sie einen klaren Punkt: „Ohne diese Erfahrungen würde ich heute nicht hier sein.“ 2016 wird sie offiziell geschieden, ihre Kinder sind damals knapp fünf Jahre alt und neun Monate. Schon zwei zuvor arbeitet sie als Heilpraktikerin, merkt aber, dass dieser Weg sich erschöpft hat.
Erst die Pandemie wird zum Katalysator: Inmitten von Lockdowns und Unsicherheit fragt sie sich, was ihre Nachkommen aus dieser Zeit mitnehmen sollen – und Menschen überhaupt aus Krisen lernen können.
2020 beginnt sie eine Ausbildung zur Kinder- und Jugendcoachin mit Schwerpunkt Mobbingprävention und steht regelmäßig in Kitas und Schulen. Parallel wächst in der muslimischen Community das Interesse an ihrer persönlichen Geschichte der Scheidung, die sie noch als Nichtmuslima durchlebt hat.
„Ich weiß daher also, wie der Rechtsstaat funktioniert, als auch etwas über den Islam – wobei ich natürlich immer weiterlese und lerne“, sagt sie. Diese doppelte Perspektive wird zur Grundlage ihrer heutigen Arbeit mit Frauen, Paaren und Familien, die mitten in Trennungskrisen stehen. Aus biografischer Erfahrung wird ein beruflicher Fokus, aus schmerzhaften Brüchen ein Angebot für andere.

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Im Zentrum steht ein Thema, das in vielen Gemeinden zwar präsent, allerdings selten offen besprochen wird: Scheidung. „Sie ist erlaubt, aber unbeliebt, wenn nicht sogar verhasst“, sagt Poeschke. In den Kategorien von halal und haram sei sie zulässig, doch an Bedingungen gebunden und eingebettet in einen klaren ethischen Rahmen.
Hiermit beschäftigt sie sich seit mehr als einem Jahr intensiver – mit einem Echo, das sie überrascht: „Der Zuspruch ist erstaunlich groß, damit habe ich nicht gerechnet, als ich damit anfing.“ Sie hatte befürchtet, gegen Wände zu laufen, doch „Allah zeigte mir einen anderen Weg und öffnete mir Türen“.
Auf ihrer Website beschreibt sie ihre Arbeit mit drei Begriffen: Seelsorge, Coaching und Meditation. Diese, so erklärt sie, habe sie als ausgebildete Meditationstrainerin nach ihrem Übertritt zum Islam teilweise neu justiert. Das regelmäßige Gebet bezeichnet sie als Meditationsform und Übung der Wahrnehmung des eigenen Zustands.
Seelsorge beginnt dort, wo Menschen erkennen: Ich bin in einer schwierigen Lage und brauche Unterstützung. Poeschke hört zu, ohne zu verurteilen, und versucht ihre Gegenüber in eine innere Zwiesprache zu führen – durch Gebet und die bewusste Wendung an Allah. „Es geht in der Seelsorge darum, ein offenes Ohr zu haben und nicht zu urteilen. Vielen fällt Zuhören extrem schwer“, sagt sie.
Coaching wiederum setzt später an: Menschen kommen mit einem klar formulierten Problem und bitten um Hilfe. „Das bedeutet nicht, dass ich ihre Probleme löse. Vielmehr gebe ich ihnen Werkzeuge an die Hand, mit denen sie arbeiten können.“
Ihr Leitmotiv fasst sie in einem Bild, das sie „Weg des Lebens“ nennt. „Jeder geht auf seinem individuellen von Allah vorgegebenem Weg.“ Zwischen halal und haram liege ein großer Raum für Erfahrungen, Irrtümer und Neuanfänge. Fallen gehöre dazu, wichtig sei der Mut, wieder aufzustehen.
Um das sichtbar zu machen, greift sie zum Beispiel eines Steins: Man stehe davor und müsse entscheiden – bleibt er liegen, wird er zur Seite gerollt oder so lange bearbeitet, bis er in viele kleine Schottersteine zerfällt. „Wenn er das tut, habe ich viele, kleinere Schottersteine oder Stolperfallen“, sagt sie.

Foto: Tamara Poeschke
Es ist ein Bild für die Höhen und Tiefen des Lebens, aber auch für den Prozess von Trennung und Scheidung, der sich in einzelne Abschnitte gliedern lässt – von der ersten Distanz bis zur endgültigen Auflösung.
Aus der Praxis hat sie diese Phasen verdichtet. Poeschke unterscheidet drei Zustände einer Beziehung: Win-Win, Win-Lose und Lose-Lose.
In der Win-Win-Phase gewinnen alle, weil sie sich respektieren, auf Augenhöhe begegnen und über Probleme sprechen. Man fühlt sich sicher und gesehen, Konflikte bleiben bearbeitbar. „Damit jeder gewinnen kann, hört der eine zu und versucht, sein Gegenüber zu verstehen“, beschreibt sie.
Kommt es dennoch zum Streit, kann eine kurze Unterbrechung – „Ich gehe kurz fünf Minuten raus und lass uns gleich wieder treffen“ – die Beziehung erneut in einen gesunden Dialog zurückführen.
Die zweite Phase markiert ein Kippen: Aus Win-Win wird Win-Lose. Ein kleineres Machtgefälle entsteht, eine Seite profitiert, die andere verliert.
Tamara Poeschke nennt als Beispiel: „Deine Kindererziehung gefällt mir nicht!“, sagt eine Person, und der Partner sieht das Problem nicht. Man kann das unter den Teppich kehren, aber mit der Zeit summieren sich diese unausgesprochenen Konflikte.
Die Win-Lose-Phase ist für sie „das Verbindungsstück zwischen der ersten und der letzten“. Irgendwann wird der sprichwörtliche Stein darunter so groß, dass man darüber stürzt und nicht mehr an ihm vorbeikommt.
In der Lose-Lose-Phase verlieren beide. Lösungen fehlen, Verständnis ist erodiert. Im schlimmsten Fall kommen häusliche Gewalt oder massiver emotionaler Druck hinzu.
Sätze wie „Du darfst nicht mehr zu den eigenen Eltern“ markieren eine Eskalationsstufe, nach der eine Ehe „zu einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt“ ist und sich in ein „Kriegsgebiet“ verwandelt – für alle, gerade für die Kinder.
Theologisch verortet Poeschke den Umgang mit Scheidung klar. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, habe Ehescheidung als eine der verhasstesten Dingen bezeichnet – „unliebsam, aber nicht verboten“.
Wer das wisse, könne an einem bestimmten Punkt sagen: Eine Trennung sei sinnvoll, damit sich beide weiterentwickeln oder zumindest räumlich trennen können.
Dazwischen gebe es Schritte, um wieder zueinander zu finden, bevor eine endgültige Scheidung vollzogen werde. Auffällig ist für sie, dass praktisch kaum Frauen aus wirklich praktizierenden Familien zu ihr kommen, weil diese ihre Rechte meist kennen – und die ihres Partners ebenso.
Ein zentrales Problem sieht sie in der Vermischung von Kultur und Religion. „Dann haben wir ein Problem, weil die Mehrheit der Frauen sich einredet: ‚Ich muss eine gute Muslima sein, die Ehe aufrechterhalten und meinem Mann gehorchen‘“, sagt sie.
Sie verweist auf eine klassische Überlieferung: Eine Ehefrau kommt zum Propheten und meinte sinngemäß, sie habe nichts gegen ihren Mann, er sei charakterlich gut und versorge sie – aber sie könne nicht mit ihm leben. Der Gesandte Allahs habe die Scheidung erlaubt.
Heute hingegen würden häufig Hierarchien gelebt statt Partnerschaften auf Augenhöhe. „Manche Männer sagen: ‘Ich bringe das Geld nach Hause, ich bestimme auch darüber. Und du willst dich von mir scheiden lassen? Wir haben gemeinsame Kinder und die nehme ich dir dann weg und mache dir das Leben zur Hölle!’“
Dem hält sie ein anderes Prophetenwort entgegen: „Der Beste unter euch ist derjenige, der gut zu einer Familie ist.“ Für die Beraterin steht hier eine einfache, aber unbequeme Frage im Raum: „Kann ich so sein, und gleichzeitig meine Frau schlagen?“ Viele Ehefrauen hätten Angst, die Ehe zu verlassen, fühlten sich verpflichtet, „gut“ zu sein und zu bleiben – und fürchteten zugleich die Reaktionen ihres Umfelds.
Geschiedene Männer würden häufig als interessant und begehrenswert gelten, während Frauen nach Scheidungen mit Urteilen konfrontiert seien wie: „Sie ist keine gute Frau“, „Sie hat versagt“, „Sie ist nicht gehorsam“, oder: „Sie hat Kinder und ich möchte eine Frau, die keine Kinder hat.“

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Gleichzeitig registriert sie, dass sich Männlichkeitsbilder verändern – in unterschiedliche Richtungen. Als jemand, die zuvor Nichtmuslima war, beschreibt sie den Einfluss gesellschaftlicher Diskurse: Früher hätte sie sich bei Themen wie Gleichberechtigung, Emanzipation und Geschlechterfragen gedacht: „Sollen doch alle machen, was sie wollen, solange man mich damit in Ruhe lässt.“ Heute reflektiert sie diese Entwicklungen stärker im Lichte islamischer Quellen.
Ja, im Din gebe es Rollenbilder, aber keine starre Zuweisung einer häuslichen Rolle an die Frau. „Die Frau ist auch hier nicht ‘das Heimchen’, das zu Hause bleiben und auf die Kinder aufpassen muss“, betont sie.
Khadija, möge Allah mit ihr zufrieden sein, sei Geschäftsfrau gewesen, für die andere Menschen gearbeitet haben. Der Prophet sei Kaufmann und zugleich Hausmann gewesen, habe seine Sachen selbst gepflegt, für die Familie gesorgt, sei einkaufen gegangen und habe alltägliche Besorgungen erledigt.
In Deutschland treffen diese religiösen Vorbilder auf eine sozial veränderte Realität: die Kleinfamilie. Mechanismen von Nachbarschaft, erweiterter Verwandtschaft und Gemeinde, die früher Stabilität gaben, sind vielfach weggebrochen.
Sie sieht darin einen wichtigen Grund, warum Ehe und Familienleben fragiler geworden sind. „Im Laufe unserer Entwicklung ist es so geworden, dass jeder teils zum Eigenbrötler wird und sein eigenes Ding macht“, sagt sie.
Sollte eine Trennung unausweichlich werden, bleibt sie für die Beteiligten ein Einschnitt – für Frauen, Männer und vor allem Kinder. „Erleichtern lässt es sich auf jeden Fall, wenn man zuerst eingesteht: Das ist die Situation“, sagt Poeschke.
Sind Kinder betroffen, verschiebt sich für sie der Fokus: Respekt im Umgang der Eltern miteinander wird zur Pflicht. Was zwischen den Paaren liegt, sei das eine, aber „über die Kinder zu gehen, Druck auszuüben – egal in welche Richtung, ob Mann oder Frau –, das geht gar nicht“.
Aus der Vielzahl der Scheidungs- und Trennungsszenarien, die sie als Coach erlebt, destilliert sie einen zentralen „Game-Changer“: die Bereitschaft, eigene Fehler zu erkennen. „Das heißt, das bestehende Problem zu sehen und sich einzugestehen, dass es so nicht weiterlaufen kann“, sagt sie.
Darauf müsse die Frage folgen: Was machen wir jetzt? Die Person, die die Schwierigkeiten sieht, solle zuerst bei sich selbst anfangen, das Gespräch suchen, aber notfalls allein an sich arbeiten. Reagiere der Partner mit Abwehr – „Nein, das gibt es nicht“ – heiße das nicht, dass der eigene Veränderungsprozess stehen bleiben müsse.
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