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Die Khawaridsch von heute

Ausgabe 248

Foto: Karl-Ludwig Poggemann | Lizenz: CC-BY-SA 2.0

(iz). Der vorliegende Text behandelt „die Khawaridsch von heute“. Es handelt sich um eine Einordnung des Phänomens ISIS/Daesh durch die islamische Lehre sowie ihr Erscheinen in der muslimischen Geschichte.
Zuerst möchte ich auf den Begriff Khawaridsch eingehen. Es geht mir darum, was sich über sie in den Aussagen des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, finden lässt. Die Mehrheit dieser Ahadith, von denen ich nur einen kleinen Ausschnitt anführe, stammt überwiegend aus den Büchern von Imam Al-Bukhari und Imam Muslim.
In einem Hadith, das Dschabir ibn ‘Abdillah überlieferte, wird von einem Mann berichtet, der zum Gesandten Allahs kam. Das geschah nach einer Schlacht bei Hunain. In der Kleidung von Bilal befanden sich Silberstücke, von denen der Prophet einige unter den Leuten verteilte. Einer der Anwesenden sagte: „Oh Muhammad, sei gerecht!“ Und der Gesandte Allahs entgegnete: „Wehe dir! Wer könnte gerecht sein, wenn ich es nicht bin? Ich wäre sehr unglückselig und ein Verlierer, wenn ich ungerecht wäre.“ Darauf sprach ‘Umar ibn Al-Khattab aus: „Erlaube mir, diesen Heuchler zu töten!“ Hier müssen wir verstehen, dass er ein großer Mann war, der Unterscheidungsvermögen besaß. Er konnte das Richtige vom Falschen unterscheiden. Es war sehr deutlich, als er diese Person einen Heuchler nannte.
Um zum Bericht zurückzukehren – der Prophet entgegnete: „Ich suche Zuflucht bei Allah davor, dass die Leute sagen könnten, ich töte meine Gefährten. Wahrlich, dieser Mann und seine Gefährten rezitieren den Qur’an, aber er geht nicht über ihre Kehle hinaus. Und sie werden durch ihn [den Qur’an] spurenlos hindurch schießen, wie der Pfeil durch die Beute geht.“ Die Bedeutung hiervon ist, dass nichts von der Rezitation des Qur’an in ihnen verbleibt. Das Gleichnis des Pfeils bedeutet, dass wegen der Wucht des Geschosses nichts vom Inneren des Tieres daran haften wird. Zwei Aspekte sind hier von Bedeutung: Dass ‘Umar den Mann als Heuchler erkannte und das wuchtige Durchschlagen des Pfeiles, an dem nichts verbleibt.
Bei Imam Muslim findet sich eine Variante dieses Berichts mit anderen Personen. An ihrem Ende findet sich die Aussage des Propheten: „Aus der Nachkommenschaft dieser Personen werden Leute kommen, die die Anhänger des Islam töten werden und die die Götzenanbeter verschonen werden. Sie werden so schnell durch die Lehren des Islam rasen, wie der Pfeil durch die Beute schlägt. Sollte ich sie jemals treffen, würde ich sie töten wie die Leute von ‘Ad [das antike Volk, das von Allah ausgelöscht wurde].“
Ein ähnlicher Bericht findet sich bei Imam Al-Bukhari. Hier heißt es, dass „in dieser Umma eine Gruppe von Leuten erscheinen wird“. Also, nicht von, sondern in. Das ist ein wichtiger Unterschied. Außerdem erwähnt der Gesandte Allahs hier beim Gleichnis des Pfeils, dass Zweifel bleibt, ob am Ende des Pfeils etwas hängen bleibt oder nicht. In einem weiteren Bericht spricht der Gesandte Allahs von einer Gruppe, die „jung an Jahren und unreif in ihren Gedanken“ sein wird. In einem Bericht von Jassir ibn ‘Ammar, der die Worte vom Gesandten Allahs wiedergab, wird neben anderen Aussagen überliefert, dass der Prophet sagte: „Diese Leute werden aus dem Irak kommen.“ Dann zeigte er mit seiner Hand in die Himmelsrichtung. In anderen Ahadith finden sich weitere Beschreibungen. So seien sie die schlimmsten Geschöpfe unter dem Himmel, „die Hunde der Hölle“. Sie gehörten mit zu den am meist Gehassten in der Schöpfung Allahs.
Erinnern wir uns daran, dass es sich hier um den Propheten handelt, der Prophezeiungen machte. Es war eine Vorhersage von etwas, das geschehen wird. Wir erhalten in diesen Berichten Hinweise über ihre Ursprünge, ihre psychologischen Einstellungen, ihre Fehler im Glauben, die Grausamkeiten, die sie begehen werden, und Anweisungen, wie mit ihnen umzugehen ist.
Wie trat dieses Phänomen historisch in Erscheinung? Es kam zu ihrer Entstehung im Kontext der Schlacht bei Siffin zwischen Sajjiduna ‘Ali und Sajjiduna Mu’awijja. Im Rahmen dieser strittigen Angelegenheit zwischen beiden kam es zu einer Verhandlungslösung. Diejenige Gruppe, die ‘Ali zuerst wegen ihres Einflusses zu einer Verhandlungslösung zwang, beschuldigte ihn daraufhin, die Armee habe durch die Akzeptanz des Kompromisses einen Akt des Unglaubens begangen. Sie müsse – inklusive ‘Ali – dies nun bereuen. ‘Ali widersprach ihnen. Auch wenn die Lösung nicht das war, was er wollte, sei sie vor Allah möglich.
Diese Gruppe lehnte die Erklärung ab und bezeichnete ihn als Ungläubigen. Immer wieder rief sie aus: „Das Urteil ist bei Allah.“ Sie erklärten Sajjiduna Mu’awijja und Sajjiduna ‘Ali und ihre Anhänger zu Ungläubigen. Sie entfernten sich von allen anderen Muslimen und erklärten sie zu Ungläubigen. Aus diesem Auszug leitete sich der Name Khawaridsch ab. ‘Ali entsandte ’Abdullah ibn ’Abbas zu ihrem Zentrum und er konnte zwei Drittel von ihrem Irrtum abbringen.
Das ist ein wichtiger Aspekt. Gruppenpsychologisch war für sie jeder andere als sie ein Nichtmuslim. Wurde ihnen die Wahrheit ihres Irrtums erklärt, rückten einige ab. Andere verharrten in dem Fehler und nahmen sich das Recht heraus, die Situation – in ihren Augen – zu klären. Die Mehrheit dieser Leute waren Beduinen, die keine Ahnung vom Wissen des Islam hatten. Psychologisch waren das keine ausgeglichenen Persönlichkeiten. Sie führten Krieg gegen Sajjiduna ‘Ali – was in ihren Augen ein „Dschihad“ war. Sajjiduna ‘Ali versuchte sein Bestes, sie zu überzeugen, musste am Ende aber zur bewaffneten Gewalt greifen. Bei der Schlacht von Nahawand erlitten sie eine vernichtende Niederlage. Neun Angehörige sollen überlebt haben. Sie bauten die Bewegung wieder auf, die den ’Umaijaden und ’Abbasiden große Schwierigkeiten bereitete. Ein moderater Ableger, die ’Ibadija, konnte bis heute in kleinen Resten überleben.
Die Vorhersagen des Propheten deuten auf einen zyklischen Charakter dieses Phänomens hin. Im Verlauf der Geschichte ist diese Bewegung immer wieder in Erscheinung getreten. Bei Ibn Kathir findet sich ein Abschnitt über die Khawaridsch. Ein interessanter Aspekt dabei ist, dass einige potenzielle Anhänger dieser Gruppe von ihren Verwandten und Eltern ermahnt wurden. Ein Teil wandte sich wieder dem geraden Weg zu und wurde gerettet.
Ist das nicht eine Sache, die uns bekannt vorkommen müsste? Was derzeit geschieht, ist keine neue Sache. Weil sie aber schwerwiegend ist, hat der Prophet uns Wissen darüber hinterlassen. Wir sind einer Gruppe ausgesetzt, die den Rest der Muslime zu Ungläubigen erklärt. Und sie verbreitet Unheil und Verderben, weil sie ihre Handlungen als erlaubt und islamisch erstrebenswert erachtet.
Die rechtgeleiteten Gelehrten dieser Zeit haben sie als die Khawaridsch dieser Zeit erkannt und bezeichnet. Einige der Khawaridsch glauben, der Prophet, wäre er unter uns, würde sich ihnen anschließen. Wir wissen, dass er das nicht tun würde. Würden sie ihm auch „oh Muhammad, fürchte Allah“ zurufen? Sie haben nicht die Demut, sich dem zu unterwerfen, was der Gesandte bringt. Das ist eines der Kernelemente ihrer Abweichung. Die Konsequenz ist ihre komplette Trennung und Entfremdung von der Umma, wie es ISIS/Daesh tut. Für sie ist es gut und lobenswert, jeden zu töten, der nicht ihre Ansichten teilt.
Was ist das Urteil bezüglich der Khawaridsch? Die Gelehrten sind in drei Lager geteilt. Aber alle sind sich einig, dass sie fehlgeleitet und Allah gegenüber ungehorsam sind. Sie sind infam und böse. Es ist Verpflichtung für die muslimischen Autoritäten, sie zu bekämpfen. Darüber herrschen keine Meinungsunterschiede.
Der Unterschied besteht darin, ob sie als Muslime zu gelten haben oder nicht. Die Mehrheit der Gelehrten betrachtet sie trotz übler Gewalttaten als Muslime. Es gab aber sehr bedeutende Gelehrte, für die sie Nichtmuslime waren. Dazu gehören Imam Al-Bukhari, Qadi Abu Bakr ibn Al-‘Arabi, As-Subki und Imam Al-Qurtubi. Ihrer Ansicht nach haben sie den Islam verlassen. Andere Gelehrte bezogen eine Position zwischen diesen beiden. Unabhängig davon, welche der drei Positionen die richtige ist: Die Übernahme dieser Ideologie kann dazu führen, dass ein – insbesondere junger – Muslim den Islam verlässt.
Der Text ist die gekürzte Version eines Vortrages, der im Rahmen der IZ-Akademie am 6. Januar in Mülheim gehalten wurde.