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Wieland oder die Natur des Menschen

Ausgabe 360

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Foto: David Brown, Adobe Stock

Die Natur des Menschen: Ahmet Aydin stellt ein Gedicht des häufig ­übersehenen Dichters Christoph Martin Wieland vor.

(iz). Der Wallstein Verlag aus Göttingen gibt die Werke Wielands nach und nach neu heraus. Ahmet Aydin hat sich der Aufgabe angenommen, sie zu lesen und zu besprechen. Heute: „Idris: Ein heroisch-comisches Gedicht“.

Weimar war mehr als Goethe. In Weimar begegneten sich Ideen, Sprachen und Kulturen – lange bevor der Begriff „Weltliteratur“ geprägt wurde. Und Goethe war nicht der erste, der westöstliche Bücher schrieb. Schon vor ihm hat Christoph Martin Wieland mit Stoffen aus dem Osten experimentiert, persische Poesie nachgebildet und den literarischen Dialog zwischen Morgen- und Abendland gesucht.

Wieland war ein Grenzgänger. Als Übersetzer, Erzähler und Denker überschritt er sprachliche, kulturelle und religiöse Schranken. Er tat es mit Humor und dem Lächeln eines feinsinnigen Aufklärers. Das, was auch im 21. Jahrhundert auf Teile der Gesellschaft fremd wirkt, war ihm vertraut, das scheinbar Ferne war ihm nah.

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Wieland hat verstanden, dass Aufklärung nicht Abschottung, sondern Öffnung bedeutet. Damit holte er auch jene Stimmen nach Deutschland und Europa, die lange als exotisch, irrational und minderwertig galten. 

„Idris“ ist der Titel einer seiner Erzählungen in Versen. Der Name ist allen Muslimen unserer Gesellschaft vertraut. Ist Idris doch der Name eines Propheten, der im Koran erwähnt wird. In der Sure Maria (arab. Meryem), Vers 56-57 steht: „Und erinnere im Buch auch an Idris. Er war fürwahr ein Aufrichtiger, ein Prophet. Wir erhoben ihn auf eine hohe Stufe.“

Er ist gemäß Fahreddin ar-Razi (gest. 1209) derjenige Prophet, der den Menschen als erster das Lesen, Schreiben und Rechnen lehrte – quasi ein Prophet der Wissenschaft und Kunst! Im Christentum ist er bekannt als Henoch, der von Gott in den Himmel erhoben wurde. Auch das glauben Muslime.

Und bei Wieland? Er erhebt seinen Idris ebenfalls auf eine hohe Stufe. Bei ihm ist Idris ein Mann, der sich in eine Frau, Zenide, verliebt, doch um mit ihr zusammenzukommen, muss er auf dem Weg Gefahren überwinden.

Wieland oder die menschliche Natur

Diese Gefahren sind so anzüglich, dass Wielands Werk bereits zu Lebzeiten in Göttingen vom „Göttinger Hain“ verbrannt wurde. Sie scheinen die Konfrontation mit der eigenen menschlichen Natur nicht ertragen zu haben. Denn während Idris nach Zenide sucht, ist nicht bloß Itifall sein Gegenspieler, sondern die Schwächen in sich selbst, die allzumenschlich sind, sind seine größeren, wahren Gegenspieler.

Zu versuchen, das Dunkle im eigenen Ich zu überwinden, ist die wohl bedeutendste Lebensaufgabe des Menschen. Dies zu tun ist möglich, wenn der eigene Charakter kultiviert wird. Dazu trägt zum Beispiel das Lesen von Wieland bei. Sagte die von vielen Muslimen als Mutter der Gläubigen bezeichnete Aischa (r) doch: „Lehrt eure Kinder die Poesie, damit ihre Zungen süßer werden.“ Die gesamte Erzählung von Wieland wurde in sich reimenden Versen geschrieben.

Die bloße Form wirkt bereits auf den Leser ein. Denn Poesie zu lesen ist ein Durchbrechen der Mauer der Alltäglichkeit. Die eigene Sprache wird beeinflusst und geformt. Während von Idris’ Abenteuern gelesen wird, wird dadurch zusätzlich die eigene Sprache geschult. Das alleine macht das Werk bereits zu einem Muss für jeden, der seine Kommunikationsskills und Kreativität anregen will. Bei Wieland klingt das wie folgt: „Ergetzen ist der Muse erste Pflicht, Doch spielend geben sie den besten Unterricht.“

Die Erzählung hat etwas Amüsantes, denn: Idris ist kein makelloser Ritter, sondern ein Mensch, dessen Idealismus oft an der Wirklichkeit scheitert. Er liebt Zenide, aber eher platonisch, nicht als lebendige Frau mit Widersprüchen. Dadurch wirkt seine Liebe leblos. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass Zenide versteinert ist.

Wieland lehrt, dass Liebe mehr als bloß Idealismus ist. Denn wer nur seine Vorstellung von einer Frau liebt, der liebt in Wirklichkeit nicht die Frau. Solch eine Liebe ist die Liebe zu etwas Statischem, das sich nicht bewegt, d.h. einer Statue, einem Ding. Solche Menschen verdinglichen die Frau.

Sie scheinen zu leugnen, dass auch die Frau eine menschliche Natur besitzt, wie der Mann. Erst als Idris erkennt, dass er wen anders für Zenide gehalten hat und sich seine Täuschung eingesteht, wird die wirkliche Zenide lebendig. Jetzt kann er ganzheitlich lieben, nicht einseitig.

Das ist nicht nur Idris’ Herausforderung, sondern die Herausforderung aller, die sich in einen Menschen verlieben. Statt sich einem Idealbild hinzugeben, muss jeder lernen, seine Zenide um ihrer selbst willen zu lieben und sich auf sein Gegenüber zu fokussieren, statt sich nur mit sich selbst zu beschäftigen.

Reifung muss stattfinden. Darin steckt ein großes Learning: Die Kenntnis der menschlichen Natur samt Stärken und Schwächen ist die Bedingung dafür, wirklich zu lieben. Ohne diese Kenntnis ist es eine Liebe mit Makel: Wer nur das Makellose liebt, dessen Liebe ist makelhaft, wer das Makelhafte lieben kann, dessen Liebe ist makellos.

Verdrehte Realitäten

Während in der Vergangenheit Geschichten aus 1001 Nacht oder andere Dichtungen der muslimischen Geistesgeschichte als zu obszön angesehen wurden in Europa, ist es heute eher so, dass sich die muslimische Welt dahin entwickelt hat, schnell etwas als zu obszön anzusehen.

Während sich Oscar Wilde für seinen „Dorian Gray“ vor Gericht verantworten musste, schrieb zeitgleich ein Autor im Osmanischen Reich einen Roman über die Liebe zwischen Frauen im Hamam – aber wurde dafür nicht gerichtet. Es scheint tatsächlich etwas dran zu sein an der These, dass europäische Staaten im Zuge des Kolonialismus ihr Verständnis von literarischer Moral dagelassen haben.

Europa entwickelte sich weiter, in den Köpfen der Kolonialisierten blieb das ehemalige geistige Gefängnis, das in Europa die freie Kunst unterdrückte. Plötzlich begannen Muslime Körper und Seele – wie ehemalige Christen – dualistisch zu denken, statt sie traditionell muslimisch als Ganzes zu betrachten, ja, plötzlich galten die Dichtungen von Hafis, Ibn Arabi oder Rumi unter Muslimen als teilweise zu obszön.

Das würde ich als größtes Grauen bezeichnen, das der Kolonialismus in den Köpfen der Muslime hinterlassen hat – der Sinn für Ästhetik und die Freiheit des Ausdrucks haben sich verändert.

Auch in Wielands Zeit nahm die Gesellschaft Anstoß an obszön empfundenen Texten. Davon war nicht nur Wieland betroffen – auch an Goethes „Römische Elegien“, bspw., wurde Anstoß genommen. Und es ist die Darstellung der weiblichen Natur, über die sich insbesondere Männer stärker empören. In einer Zeit wie der unseren, in der mit wenigen Klicks wirklich Obszönes und Perverses angesehen werden kann, können Dichtungen kaum für Aufregung sorgen.

Die Figur des Itifall aus der Erzählung würde sich wohl über die Zeit heute sehr freuen. Es ist eine, in der das Ausleben aller sexuellen Phantasien als Fortschritt gilt. Geld für sexuelle Gefälligkeiten zu nehmen, wird OnlyFans genannt statt Prostitution. Die Realitäten haben andere Begriffe erhalten. Ob Aufklärer wie Wieland das als Fortschritt bezeichnen würden, bezweifle ich. Aber Wieland hat eben Texte geschrieben, die als zu obszön empfunden wurden – warum?

Es ist wirklich so, dass es Erstaunen erregt, wenn es aus der Feder eines deutschen Aufklärers wie Wieland kommt. Dazu trägt in dieser Ausgabe auch das Cover des Buches bei. Es ist nicht das, was in einer Buchhandlung in der Abteilung für klassische Literatur für gewöhnlich zu finden ist.

Es fällt auf – und was auffällt, fällt so leicht nicht weg. „Wie kann ein solches Cover einen Klassiker zieren?“ – Diese Frage ist der Grund dafür, dass ich hier nun diese Rezension schreiben kann. Dadurch stieg mein Interesse und ich wurde vertrauter mit dem seit jeher in Deutschland zu sehr vernachlässigten Klassiker.

Wieland ist ein Mann der Mitte. Wo Menschen zwanghaft prüde sind, provoziert er und wo sie zwanghaft pervers wären, würde er mäßigen. In seinem Werk finden sich alle Facetten des Menschen, weil er den Menschen ganzheitlich betrachtet und nicht einer Ideologie anhängt. Einer Ideologie anzuhängen setzt dem Menschen Scheuklappen auf. Er steht darüber. Sein Fokus ist der Mensch und seine Natur.

Tradition der Weisheit

Deshalb überwindet Idris seine zu platonische Liebe und erkennt an, dass Körperlichkeit nicht Schwäche, sondern ein gesunder Teil der Liebe ist, ein schöner. Und doch machen ihn seine Irrtümer menschlich – und ermöglichen seine Entwicklung. Idris wird nicht durch bloß eine Lehre oder Theorie weise, sondern durch Erfahrung. Diese Haltung teilt er mit der islamischen Weisheitstradition.

Die Marifa – das tiefere, erfahrungsbasierte Wissen – wächst nicht im Kopf, sondern im Herzen, durch Begegnung mit der Welt. Wieland stellt seinen Protagonisten nicht als perfekten Helden dar, sondern als Lernenden. Das kann heute als Botschaft für alle Menschen, die Dogmen verfallen sind, gelesen werden: Es ist erlaubt zu zweifeln, zu irren, zu fragen. Der Weg zu Gott ist ein Prozess und kein statischer Zustand.

In diesem Sinne sagte der muslimische Theologe und Denker al-Ghazali (gest. 1111) in seinem Werk „Das Kriterium des Handelns“: „Der Zweifel führt zur Wahrheit. Wer also nicht zweifelt, denkt nicht nach, und wer nicht nachdenkt, sieht nicht, und wer nicht sieht, bleibt in Blindheit und Irrtum.“ 

Für Muslime in Deutschland ist Wieland ein kostbarer Fund: Er zeigt, dass der „Islam“ nicht nur Objekt europäischer Kritik war, sondern auch Quelle von Faszination, geistiger Nahrung und kultureller Inspiration. Wieland war ein Pionier der deutschen Aufklärung – doch anders als viele Menschen heute begegnet er dem „Orient“ nicht mit Überheblichkeit oder Distanz, sondern mit Neugier, Respekt und innerer Verbundenheit. 

Zugleich bietet er eine Sprache an, in der man als Muslim nicht als Fremder erscheint, sondern als Teil einer geteilten Menschheit – eine Menschheit, die nach Weisheit, Liebe und Orientierung sucht. Idris ist ein besonders gelungenes Beispiel für diese Haltung: ein Text, der kulturelle Übersetzung nicht nur als ästhetisches Spiel betreibt, sondern als geistige Annäherung – ja als Liebesakt. Eine Liebe, die auf der Realität fußt.

Ideale auf Gedeih und Verderb umsetzen zu wollen, macht sie zu Götzen und versteinert sie. Nur wer die Natur des Menschen achtet und schätzt, kann zeitlose Ideale vom Kult befreien und sie lebendig machen. Das ist Weimar – und Weimar ist mehr als Goethe. Es ist auch Wieland!

Christoph Martin Wieland: Idris. Ein heroisch-comisches Gedicht. Hrsg. von Peter-Henning Haischer und Hans-Peter Nowitzki. Wallstein Verlag. 229 Seiten. Preis: EUR 34.-

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