
(iz). „Sattelzeit“ nannte der Historiker Reinhart Koselleck die hundert Jahre zwischen 1750 und 1850 und dachte diese Epoche sinnbildlich als Bergsattel der Zeit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Den Kernbereich innerhalb dieser Zeit bildet der Deutsche Idealismus. Er ist datiert von etwa 1770 bis 1830, sein geographisches Zentrum lag in Weimar und Jena. In Weimar wirkten Goethe, Herder und Wieland; in Jena lehrten Schiller sowie zeitweise Fichte, Schelling und Hegel.
Georg Schmidt, ein routinierter und renommierter Frühe-Neuzeit-Historiker, der bis 2017 just in Jena lehrte, lässt den Deutschen Idealismus und die Weimarer Klassik im Jahr 1772 beginnen, mit der Berufung Christoph Martin Wielands zum Erzieher des damals noch minderjährigen Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar durch dessen Mutter Anna Amalia, die der Legende nach Weimar zum Musenhof gemacht habe. So erscheint Schmidts Buch also zum 250. Jubiläum der Weimarer Klassik.
Auf Wielands Berufung folgten die Anstellung Goethes in Weimar durch Carl August 1775 und die Berufung Schillers an die Universität Jena, wo der Dramatiker des Sturm und Drang zum Historiker wurde. Am 26. Mai 1789 hielt der 29-Jährige „die vielleicht berühmteste Antrittsvorlesung aller Zeiten“: „Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Schillers „Freundschaftspakt“ mit Goethe aber machte, so schreibt Schmidt, „aus dem Weimarer Musenidyll das Ereignis Weimar-Jena. […] Der Ereignisraum, der in der Mitte zwischen Wien und Berlin, Paris und St. Petersburg lag, sollte das Klassik und Moderne verbindende Wissens- und Deutungsangebot bereitstellen.“
Schmidts Buch liefert eine möglichst umfassende Einführung in den Kosmos Weimar-Jena, die nur selten langweilt. Die philosophische Dimension mit der Jenaer Frühromantik, die sich in den späten 1790er Jahren um Novalis, die Brüder Schlegel und deren Frauen Caroline und Dorothea formierte, und den Denksystemen, die die drei großen Vertreter des Deutschen Idealismus Fichte, Schelling und Hegel hier grundlegten, kommt zwar zu kurz; umso sorgfältiger werden dafür aber die historischen Hintergründe ausgeleuchtet.
Schmidt denkt die Weimarer Zeit vom „Alten Reich“ und dessen konfessionell, ständisch und auch ethnisch pluraler, partikularistischer Ordnung her, auf die Goethe in seinem Faust II positiv Bezug nimmt und die Schmidt im Pluralismus der „Berliner Republik“ wiedererkennt. Das „liebe heil’ge röm’sche Reich“ hatte nach der Revolution noch eine Gnadenfrist bekommen, der Friede von Basel zwischen Preußen und Frankreich Norddeutschland 1795 aus dem Ersten Koalitionskrieg hinausgenommen.
In dieser nördlichen „Friedenszone“ des Reiches konnte sich so ein reges Geistesleben entfalten, während in Südwestdeutschland und Italien Kaiser Franz und General Bonaparte einander blutige Schlachten lieferten, Frankreich und England in Ägypten um die Weltherrschaft rangen und Zar Paul I. von einer russischen Invasion in Britisch-Indien fantasierte. Seine Tochter Maria Pawlowna heiratete derweil 1804 den Erbprinzen Karl Friedrich von Weimar (und wurde, noch zu Goethes Lebzeiten, Schwiegermutter des späteren Kaisers Wilhelm I.). In diesem Schwebezustand weltpolitischer Abstinenz, im Schatten des späten Absolutismus und Feudalismus gedieh der Geist von Weimar, der damals vor allem ein Geist von Jena war.
1806 war damit Schluss: im Abstand von je zwei Jahren starben nacheinander Novalis, Herder und Schiller, nachdem die Königin Luise Letzteren noch als Erzieher ihrer Söhne nach Berlin hatte holen wollen, auch die Frühromantiker verließen Jena. 1806 dann „ging das Alte Reich unter“: Erst erklärte es im August Kaiser Franz II. formell für erloschen; zwei Monate später überrannte dann Napoleon die preußische Armee – bei Jena und Auerstedt.
Napoleon beendete das Ancien Régime in Deutschland und erledigte damit, was in Frankreich die Revolution vollbracht hatte. Hegel, der den Franzosenkaiser vor der Schlacht „live“ in Jena sah („die Weltseele zu Pferde“); der dort noch die Phänomenologie des Geistes geschrieben hatte, ging nach Berlin. Fichte aber wurde unter dem Eindruck der Niederlage und der Franzosenzeit zum Propheten eines neuen Nationalismus – der, das erörtert Schmidt in seinem klugen Epilog, alsbald und noch lange das Erbe Goethes und Schillers kapern sollte.
1931 schrieb der Philosoph Karl Jaspers: „Im Rückblick erscheinen jetzt die Jahre bis 1830 als die halkyonischen Tage wie eine verklärte Zeit.“ 1827 starb Beethoven, zwei Jahre später Friedrich Schlegel, 1831 dann Hegel, 32 Goethe, 35 schließlich Wilhelm von Humboldt. Doch man kann das Ende der eigentlichen Weimarer Klassik schon mit 1806/07 ansetzen; mit der Auflösung der Frühromantiker, dem Tod Schillers und Hegels Phänomenologie – dem genialischen Höhe- und Schlusspunkt der Transzendentalphilosophie, der in den Händen Feuerbachs und Marxens zum Ausgangspunkt einer ganz neuen, gegenständlichen Denkweise wurde, die nicht mehr von einer höheren Heilsgeschichte ausging, sondern an ihre Stelle einen historischen Materialismus setzte.
Die entscheidende Periode der Weimarer Klassik reichte von 1789 bis 1807, von der Antrittsvorlesung Schillers bis zum Erscheinen von Hegels Phänomenologie; auch deshalb sollte vielleicht eher von der Jenenser als der Weimarer Klassik die Rede sein. Hatte es „aus Schillers Sicht“, wie Schmidt schreibt, „der durch seine Bildung im Geleit der Musen auf einer höheren Kulturstufe angekommene Mensch nicht mehr nötig, Länder zu überfallen und auszuplündern, weil er Reichtum und Macht als Äußerlichkeiten entlarvt hatte“: so änderte sich dies nach der traumatischen Erfahrung von 1807 und der anschließenden „Franzosenzeit“: der „deutsche Geist“, wenn man unwissenschaftlich von einem solchen sprechen möchte, verhärtete sich, um machtpolitisch und weltgeschichtlich den Anschluss nicht zu verpassen, assistiert durch die Romantik, die sich nunmehr ins Antiklassisch-Deutschtümelnde und Gegenrationale flüchtete; der kosmopolitische Impuls aber, den Schiller und Goethe bei allen dogmatischen Differenzen geteilt hatten, verebbte; dass im selben Jahr mit Herzogin Anna Amalia auch die Stifterin der Weimarer Klassik starb, bildet hierzu die passende kalendarische Pointe.
Die Zeit des Weltgeistes, dessen esoterische Lebensbeschreibung Hegel in seiner Phänomenologie unternimmt, war schon wieder vorbei. Es begann die Zeit der Weltpolitik und der Weltliteratur. Goethe, der in seinem Spätwerk „Faust II“ eine protomarxistische Kapitalismuskritik in literarische Form kleidete und mit dem Homunculus einen Cyborg avant la lettre erstehen ließ, ahnte das wehmütig; über den reaktionären Weg, den Preußen und Österreich nach den Befreiungskriegen mit der Bindung ans autokratische Russland einschlugen, war er nicht glücklich: „Wir sehen endlich wieder Kosaken; die haben uns vom Tyrannen befreit, sie befrein uns auch wohl von der Freiheit.“ Bei aller Kritik an den Exzessen der Revolution blieb Goethe Atlantiker. Am 17. März 1832, fünf Tage vor seinem Tod, schreibt er an Wilhelm von Humboldt die Worte: „Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handeln waltet über die Welt.“
Das meinte das Politische – die Blockkonstellation des späten 18. Jahrhunderts nahm immer schärfere Formen an –, aber auch das Technische. Auch hier hätte man sich von Schmidt mehr Einordnung gewünscht: dass gerade in die Weimarer Zeit Youngs Doppelspaltexperiment, Sertürners Morphium, Nièpces Heliogravuren, die erste Eisenbahnfahrt fallen, muss sich der Leser dazudenken; dafür entschädigen kenntnisreiche Einblicke in die sozietale Realität der Weimarer Klassik: wie man lebte, wer wie viel verdiente und so weiter.
Die Epoche der Nationalismen, die nach „Weimar“ anbrach, liegt heute hinter uns (auch wenn man daran im Jahr des Ukrainekrieges berechtigte Zweifel hegen kann); begonnen hat das Anthropozän, gezeichnet durch die gigantischen technischen Umwälzungen, zu denen eben in der Weimarer Zeit der Grund gelegt wurde.
Der evolutionäre Kosmopolitismus Goethes und das ästhetische Humanitätsideal Schillers sind unterdessen – und das wird gern übersehen – zu den Leitwerten der pluralistischen Öffentlichkeit geworden – allerdings weitgehend entkleidet ihres transzendentalen und geschichtsphilosophischen Gehalts. Vielleicht wird sich gerade Letzteres angesichts der Herausforderungen des Anthropozäns als unerwartete Hypothek erweisen.
Georg Schmidt: Durch Schönheit zur Freiheit. Die Welt von Weimar-Jena um 1800. Beck 2022, 384 S., 33 Abb., 29,95€. ISBN: 978-3-406-78556-6