Aserbaidschan braucht Europa – und umgekehrt

Die EU steht unter Handlungszwang. Doch was soll sie tun, wenn die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedsstaaten der Eurozone drückt und damit wie ein unüberwindbares Hindernis für eine freie politische Meinungs- und Handlungsgestaltung Europas gegenüber den im Energiebereich schier übermächtig erscheinenden russischen Handelspartner wirkt?

Russland gehört auch mehr als 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu den einflussreichsten und mächtigsten Nationen der Welt. Ein Verzicht auf machtpolitische Druckmittel, wie Öl und Gas, die ganze Staaten in den Würgegriff nehmen können, scheint jedoch mehr denn je undenkbar, weil sich das Russland – ähnlich wie damals das Deutsche Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg – politisch und geostrategisch eingekreist sieht.

Als Jelzin am 31. Dezember 1999 überraschenderweise sein Amt niederlegte, und Putin entsprechend der Verfassung zum Präsidenten der Russischen Föderation ernannt wurde, räumte der Ex-Geheimdienstler mit der weit verbreiteten Anarchie im Land, aber auch mit neoliberalen Ansätzen in der Wirtschaft auf und zog sich damit den Unmut und zum Teil sogar die Feindschaft des Westens auf sich. Mit massiven und zum Teil auch brachialen Verstaatlichungsmaßnahmen schützt Putin heute die Russische Föderation vor einem erneuten Ausverkauf – wie er während der 90er-Jahre zu nicht selten unannehmbaren Bedingungen stattgefunden hatte.

Innenpolitisch muss die Ablehnung der politischen und wirtschaftlichen Westintegration Russlands mit einer massiven Stärkung des staatlichen Machtapparats und Einflusses gleichgesetzt werden. Mittels eines harten Durchgreifens in den abtrünnigen Kaukasusrepubliken, die Unterwerfung des aus den 90ern geerbten Oligarchentums unter die Interessen des Kreml und auf dem Wege des erneuten Auflebens des post-sowjetischen Moskauer Zentralismus konnte das Land nach den Verwerfungen der Jelzin-Ära erneut stabilisiert werden.

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Europäische Großmachtpolitik im Osten könnte ungeahnte Folgen hervorrufen
Die geplante Etablierung der Eurasischen Union vor der Haustür der Europäischen Union, die sich von der letzten Finanzkrise erholt, machte aus Putin jedoch endgültig einen machtpolitischen Störenfried und Konkurrenten. Insbesondere die EU kann eine russische Hegemonie in Osteuropa nicht mehr dulden, weil sich damit wichtige Interessenssphären in heikelste Weise mit jenen Moskaus überschneiden würden. Mit der faktischen Spaltung der Ukraine, welches ein sehr wichtiges Puzzleteil im russischen Vormachtstreben darstellt, wurde der Eurasischen Union erst einmal ein Keil vorgeschoben. Die offene Gegnerschaft zu Russland bleibt jedoch auch nicht mehr ohne Konsequenzen.

Im Versuch der EU, angemessen auf die Rückgliederung der unter den Verhältnissen des totalitären Kommunismus gegen den Willen der Bevölkerung verschenkten Krim zu reagieren, kämpfen ihre Mitgliedsländer nun mit ihrer eigenen Abhängigkeit von russischen Gasimporten. Denn jedwede wirtschaftliche Sanktion gegen Russland könnte mit einer Unterbrechung der Gaslieferungen in die EU beantwortet werden – mit höchst unangenehmen Folgen. Selbst wenn die Krimkrise entschärft werden könnte, würden Spannungen zwischen Russland und der Ukraine bestehen bleiben, zumal rund ein Drittel der europäischen Gasimporte über das Territorium der Ukraine geliefert werden. Aus Kreisen der an der provisorischen ukrainischen Übergangsregierung beteiligten Rechtsextremisten wurde auch bisweilen schon mit Sabotage der Pipelines gedroht.

Die unsicher werdenden russischen Gaslieferungen öffnen aber nun eine Tür für Aserbaidschan, eine Hoffnung, welche auch die Europäer schon lange hegen. Das kleine Land könnte entscheidend zu Europas Unabhängigkeit von russischen Rohstofflieferungen beitragen und damit künftig mehr politische Handlungsfreiheit für die EU erwirken – möglicherweise, sollte die Krimkrise Brüssel keine Lehre sein, auch politischer Abenteuer.

Aserbaidschan möchte Krim-Standards auf Bergkarabach angewendet wissen
Aserbaidschan ist vielen europäischen Investoren und Politikern lediglich als alternativer Rohstofflieferant zu Russland bekannt. Doch die Kaukasusrepublik fordert auch aus politischen Gründen mehr Aufmerksamkeit von der so genannten „westlichen Wertegemeinschaft“. Armenien besetzte 1994 als enger Verbündeter Russlands die aserbaidschanische Provinz Bergkarabach. Mit der Verletzung der staatlichen Integrität Aserbaidschans wurde massiv gegen geltendes internationales Recht verstoßen.

Mit Blick auf die EU, welche auch die Rückgliederung der Krim als Bruch des internationalen Rechts betrachtet, hat Aserbaidschan am Mittwoch seine Überstützung für die territoriale Integrität der Ukraine erklärt – und diplomatisch geschickt gefordert, die gleichen Prinzipien des internationalen Rechts, auf die man sich nun in der Ukraine berufe, müssten auch auf seine annektierten Gebiete von Bergkarabach und dessen Umgebung angewandt  werden, die seit über 20 Jahren von Armenien besetzt sind. Zumal es in Bergkarabach nie eine Volksabstimmung zu Gunsten Armeniens gegeben hätte.

In einem offenen Brief an alle europäischen Institutionen schrieb Elkhan Suleymanov, Mitglied der aserbaidschanischen Delegation, zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats, dass bei Berufung auf die territoriale Integrität der Ukraine als Rechtsgrundlage für die internationale Reaktion auf Russland dasselbe auch für Armenien gelten müsse, das seit mehr als zwei Jahrzehnten Resolutionen der Vereinten Nationen, des Europäischen Parlaments, der OSZE und der  Parlamentarischen Versammlung des Europarats ignoriert habe. „Ein Gesetz ist ein Gesetz, und es sollte niemals für verschiedene  Länder unterschiedlich ausgelegt werden“, schrieb er im Vorfeld der formellen Beanspruchung der Krim durch Russland. Zudem fügte er hinzu: „Seit nunmehr 24 Jahren wird beinahe ein Fünftel des aserbaidschanischen Staatsgebiets von armenischen Soldaten besetzt  gehalten. Wo sind die Sanktionen gegen Armenien?“

Während die Kameras aus aller Welt auf die Krim gerichtet sind, sagte Suleymanov, die Opfer der armenischen Besatzung litten im Stillen außerhalb des internationalen medialen Augenmerks. „Wir haben über vierhunderttausend Menschen, die vor einer humanitären Katastrophe stehen, da die Armenier auch den Sarsang-Stausee besetzt halten.

410 000 Bürger der Autonomen Republik Nachitschewan werden von Armenien blockiert und bedroht. Ich fordere die europäischen Institutionen auf, durch Erklärungen und Hilfsaktionen Aserbaidschan und seiner territorialen Integrität dieselbe Unterstützung zu zeigen, wie dies derzeit für die Ukraine geschieht“, erklärte Suleymanov.

Doppelte Standards?
Suleymanov, der sich seit langem für die eine Million Opfer der armenischen Besatzung seiner Nation einsetzt, sagte, Bergkarabach könne nicht als ein eingefrorener Konflikt abgetan werden, und merkte an, dass „täglich Schüsse durch armenische Scharfschützen“ fielen – wobei in diesem Fall die Zuordnung im Unterschied zur Situation in Kiew eindeutig vorgenommen werden könne. Er fügte hinzu, dass Europas Reaktion auf seinen Brief eine Chance sei, zu zeigen, dass keine doppelten Standards, Scheinheiligkeit oder Diskriminierung herrschten.

„Bieten Sie Aserbaidschan dieselbe Unterstützung wie der Ukraine! Lassen Sie uns den Grundsatz der territorialen Integrität überall in der Welt achten, und zeigen Sie, dass Sie die Werte, auf denen die Europäische Union zu stehen behauptet, wirklich respektieren“, schloss er. Sein Brief war unter anderem an Jose Manuel Barroso, Martin Schulz, Anne Brasseur und Catherine Ashton adressiert.

Der Artikel wurde uns mit freundlicher Genehmigung vom Autor zur Verfügung gestellt. Ersterscheinung: am 24.03.2014 auf dtj-online.de