
IZ-Reiseblog: Unser Autor will auf den sizilianischen Vulkan Ätna – und erfährt dabei die majestätische Eigenschaft des Schöpfers.
(iz). In der Landschaft rund um den Vulkan Ätna treffen Gegensätze aufeinander. Die Natur zeigt sich hier in ihrer schönsten, aber auch in ihrer zerstörerischsten Form. Die gewaltigen Kräfte unter der Erde erzählen von ständiger Verwandlung – ein unaufhörlicher Zyklus aus Zerstörung und Erneuerung.
Trotz der steten Bedrohung zählt die Region zu den am dichtesten besiedelten auf Sizilien. Der Grund dafür ist einfach: Sobald die Lava abgekühlt ist, hinterlässt sie einen fruchtbaren Boden, der alles gedeihen lässt.
Das südliche Tor zum Ätna
Unsere Reise führt uns nach Nicolosi, das als südliches Tor zum Ätna gilt. Im 18. Jahrhundert sah es hier anders aus. Der deutsche Reisende Johann Hermann von Riedesel beschrieb den Ort so: „Um Nicolosi selbst ist alles mit Sand, welchen der Berg zu verschiedenen Malen ausgeworfen, überschüttet, und man siehet nichts als Maulbeerbäume in diesem verbrannten Erdreiche, welche jedoch als ein Wunder gut wachsen und Blätter bringen.“
Die alten Lavaströme sind heute erstarrt. Bei unserer Ankunft liegt die gesamte Umgebung in einem dichten Wolkenmeer. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf Wetterbesserung zu hoffen.
Zur Überbrückung lesen wir in Goethes „Italienischer Reise“. Auch er war auf den Spuren von Riedesel unterwegs, hatte dessen Buch im Gepäck – und erlebte ebenfalls eine Enttäuschung: Der Aufstieg zum Gipfel wird ihm wegen der Jahreszeit nicht empfohlen.
Stattdessen rät man ihm zur Besteigung des Monte Rossi. „Sie werden von da des herrlichsten Anblicks genießen und zugleich die alte Lava bemerken, welche dort 1669 entsprungen, unglücklicherweise sich nach Catania hereinwälzte.“
Goethe folgt dem Rat und schildert seine Eindrücke lebendig:„Wir rückten dem roten Berge näher, ich stieg hinauf, er ist ganz aus rotem vulkanischen Grus, Asche und Steinen zusammengehäuft.“ Doch ein Sturm zwingt ihn bald zum Rückzug. Sein Reisebegleiter, der Maler Kniep, fertigt Skizzen zur Erinnerung an.
Unter dichten Wolken
Am nächsten Tag liegt der Ätna weiterhin unter dicken Wolken. Es regnet. Dennoch machen wir uns zu Fuß auf den Weg zum Monte Rossi – ca. zwei Stunden entfernt. Glücklicherweise klart der Himmel rund um den kleinen Nebenkrater auf. Selbst wenn der Ätna als solcher nicht zu sehen ist, reicht der Blick nun bis nach Catania und über die beeindruckende Landschaft.
Dann, endlich, am nächsten Morgen bricht die Sonne durch. Wir fahren zur Talstation am Südhang des Vulkans, auf fast 2.000 Meter Höhe. Heute ist das Gebiet touristisch erschlossen – eine Erkundung erfordert keinen besonderen Wagemut mehr. Mit der Seilbahn und Geländewagen geht es weiter nach oben.
Von dort aus wandern wir mit einem Bergführer entlang der Krater. Das gesamte Massiv ist in Bewegung. Immer wieder kommt es zu Eruptionen, neue Trichter entstehen, der Gipfel wächst. Der Wind peitscht, es ist schwer, auf den Beinen zu bleiben – man spürt die unbändige Kraft dieser Landschaft.
Schon Goethes Zeitgenossen versuchten, dieses Erlebnis in Worte zu fassen. Der englische Reisende Patrick Brydon schrieb: „Doch hier muss jede Beschreibung zu kurz kommen: denn keine menschliche Einbildungskraft hat es wohl je gewagt, sich ein Bild von einer so herrlichen und prächtigen Scene zu denken, noch gibt es auf der Oberfläche unseres Erdballes einen Punkt, der so viele erhabene Gegenstände vereinigte.“
Auch Riedesel notierte voller Begeisterung: „Hier, auf diesem Gipfel eines der höchsten Berge in der Welt, genoss ich der weitesten und schönsten Aussicht, welche zu erdenken ist. Hinter den apenninischen Gebürgen in Calabrien sah ich die Sonne aufgehen und hervorkommen; sie beleuchtete die ganze morgenseitige Küste Siciliens, und das Meer, welches diese Insel von Calabrien scheidet.“
Foto: Abu Bakr Rieger
Erinnerungen an Homer
Wir denken hier oben unweigerlich an eine andere große Reiseerzählung: Homers „Odyssee“. Wie muss der feuerspeiende Vulkan auf die antiken Griechen gewirkt haben, lange bevor es wissenschaftliche Erklärungen dafür gab? Für sie wurde der Ätna zum Symbol des Ungeformten, des Chaos, das der Mensch mit List und Mut zu bezwingen sucht.
Der Held Odysseus kämpft nicht nur gegen Zyklopen und Sirenen – er ringt mit den Urgewalten. So wird der Feuerberg zum Topos der Seele: ein Ort innerer Prüfungen, ein Gleichnis für das Elementare. Ein Vulkan in der Psyche – vielleicht in jedem von uns –, der sich zwischen Gefahr und Heimkehr, Hybris und Demut bewegt.
Der majestätische Anblick lehrt Demut
Wir verbringen einige Zeit an diesem besonderen Ort. Vor dem majestätischen Anblick des Ätna stockt einem der Atem – der Rauch, die Lava, die Kraft aus dem Innersten der Erde.
Als Muslime erinnern wir uns in solchen Momenten daran, dass all dies ein Zeichen der Größe Allahs ist. Im Islam bewundern wir die Wunder der Natur, doch wir verwechseln das Geschaffene nie mit dem Schöpfer. Der Vulkan ist beeindruckend, ja ehrfurchtgebietend – aber nicht göttlich. Unsere Ehrfurcht gilt allein Dem, Der ihn erschaffen hat.
Foto: Abu Bakr Rieger
Heute existiert man in einer technisierten Welt. Doch das Bewusstsein wächst, dass wir – trotz jeden Fortschritts – die Natur nicht beherrschen können. Wir müssen mit ihr leben, nicht gegen sie. Diese Wahrheit zeigt sich in einer Begebenheit, die das Leben in dieser Region eindrucksvoll spiegelt.
Beim großen Ausbruch von 1991/92 drohte der Lavastrom das Dorf Zafferana Etnea zu zerstören. Wissenschaftler sprengten Dynamit, Ingenieure gruben Kanäle und errichteten Erdwälle, um den Strom umzuleiten. Zementblöcke wurden herangeschafft, um ihn zu spalten.
Gleichzeitig vertrauten viele Menschen auf höhere Mächte: Prozessionen wurden in der Hoffnung auf himmlischen Beistand organisiert. Als die Lava im Juni 1992 nur wenige hundert Meter vor dem Ort zum Stillstand kam, sahen sich beide Seiten bestätigt.
Der Ätna hat sich beruhigt – vorerst. Doch er erinnert uns daran, dass wir Menschen nicht die Herren über die Erde sind. Vielleicht ist das seine wichtigste Botschaft.