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Christian Wagner zur aktuellen Entwicklung in Afghanistan

Foto: Sergej Seemann, Adobe Stock

„Die afghanische Armee wäre auch in fünf Jahren nicht in der Lage gewesen, die neue Ordnung gegen die Taliban zu verteidigen. Der Westen hatte zwar Unterstützung durch die urbanen Eliten, die aber in sich zerstritten und korrupt waren.“

Berlin (KNA). Mit unheimlicher Geschwindigkeit haben die Taliban Afghanistan überrannt und stehen in der Hauptstadt Kabul. Der Westen verfolgt die Entwicklung im Schockzustand. Wie konnte es dazu kommen und welche Zukunft erwartet das Land? Christian Wagner, Südasien-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, analysiert im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) die Lage in Afghanistan.

KNA: Herr Wagner, was treibt die Taliban stärker an: das Streben nach dem Gottesstaat oder der Anspruch auf Hegemonie und antiwestliche Machtpolitik?

Wagner: Das eine ist vom anderen kaum zu trennen. Die entscheidende Triebkraft ist sicherlich der Islam. Gerade weil die Taliban ihn in einer extremen Form auslegen, die den Westen als ultimatives Feindbild ausmacht, solange seine Truppen im Land stehen.

KNA: Wie viel Rückhalt haben die Taliban in der Bevölkerung?

Wagner: Das ist schwer einzuschätzen, weil die Taliban Wahlen immer abgelehnt haben und jede Opposition im Keim ersticken. Fehlende Gegenwehr ist also kein Indiz für Rückhalt. Die Bilder aus Kabul zeigen, dass zumindest in den Städten große Angst herrscht. Andere Teile der Bevölkerung arrangieren sich oder können der archaischen, schlichten Scharia-Gerechtigkeit der Taliban sogar etwas abgewinnen, denn die sorgt für eine gewisse Sicherheit auf den Straßen und verspricht ein Durchgreifen gegen die Korruption.

KNA: Die fehlende Kampfbereitschaft der afghanischen Armee hat den Westen jedenfalls überrascht und schockiert.

Wagner: Er hat aber auch einen Anteil daran. Der Westen konnte nicht dafür sorgen, dass die Gelder, die er in den Aufbau dieser Armee pumpte, auch bei den Soldaten ankommen. Sie versickerten in korrupten Strukturen. Deshalb fehlte es der Truppe an Sold, an Verpflegung, sogar an Munition. Zweitens hat das Abkommen von Doha zwischen den USA und den Taliban 2020 viel Vertrauen zerstört. Damit war klar, dass die ISAF-Kontingente in Kürze abziehen und den Taliban mehr oder weniger das Land überlassen. Warlords und Armeekommandeure haben sich dann zügig umorientiert und eigene Deals mit den Islamisten angepeilt.

KNA: Hätte es denn überhaupt eine Strategie gegeben, um Stabilität und Demokratie im westlichen Sinne zu sichern? Etwa durch eine längere Stationierung der ISAF?

Wagner: Nein, ich glaube nicht. Die afghanische Armee wäre auch in fünf Jahren nicht in der Lage gewesen, die neue Ordnung gegen die Taliban zu verteidigen. Der Westen hatte zwar Unterstützung durch die urbanen Eliten, die aber in sich zerstritten und korrupt waren. Ein großes Problem sehe ich auch im fehlenden Aufbau einer überlebensfähigen Wirtschaft. Man hat den Bildungssektor gestärkt, um Fachkräfte auszubilden, aber es mangelt in Afghanistan ja komplett an Arbeitsmöglichkeiten für diese jungen Leute. Es gibt keine Industrie, keine Wertschöpfung, keine Ressourcen. Dafür ein starkes Bevölkerungswachstum, besonders in den bitterarmen ländlichen Regionen. Im Übrigen gibt es kaum Beispiele, dass die Schaffung einer demokratisch-liberalen Gesellschaft in einem nichtwestlichen, noch dazu islamischen Land mithilfe westlicher Truppen jemals funktioniert hätte. Gerade in Afghanistan stehen einem solchen Nationbuilding komplexe soziale Strukturen entgegen, die auf Loyalität innerhalb von Clans und Stämmen gründen statt auf einer Nation.

KNA: Was kommt jetzt? Rechnen Sie mit einem neuen Terror-Emirat wie vor 25 Jahren?

Wagner: Ich gehe derzeit eher von einer moderateren Herrschaftsform aus. Die Taliban agieren heute anders als damals. Sie werden die fast vollständige internationale Isolation ihres Staates vermeiden und auch westliche Hilfsorganisationen zulassen. Denn ihnen liegt an einer Verbreiterung ihrer Legitimation im Land und dafür brauchen sie eine zumindest rudimentäre Entwicklung der Infrastruktur. Inzwischen wissen sie auch um die Macht internationaler Medien. Allzu barbarische Methoden insbesondere gegen Frauen werden sie deshalb wohl unterlassen. Allerdings sind die Taliban eine heterogene Gruppe. Womöglich wird das Regime in entlegeneren Landesteilen härter vorgehen. Aber auf Regierungsebene vermute ich das erstmal nicht.

KNA: Auch China steht als Entwicklungspartner bereit – nicht gerade ein eiserner Verfechter der Menschenrechte.

Wagner: Aber China hat auch Sicherheitsinteressen. Es wird zumindest verhindern wollen, dass Afghanistan wieder ein Hort des internationalen Terrorismus wird wie 2001. Denn das hätte Auswirkungen auf die chinesische Provinz Xinjang, wo Peking die muslimischen Uiguren massiv unterdrückt. Wenn die Taliban von chinesischer Hilfe profitieren wollen, müssen sie sich von Terrororganisationen wie dem „Islamischen Staat“, Al-Qaida und militanten uigurischen Gruppen distanzieren und dürfen ihnen keine Rückzugsmöglichkeiten im Land erlauben. Das gilt übrigens auch mit Blick auf Russland, das heute viel stärker daran interessiert ist als 1996, die Ausbreitung des islamistischen Terrorismus in Zentralasien zu bekämpfen. Selbst Pakistan verfolgt in diesem Sinne eine andere Politik als vor 20 Jahren. Ein Lagebild wie vor der westlichen Invasion wird sich deshalb vermutlich nicht wiederholen.

KNA: Die muslimische Welt verfolgt die Entwicklung bisher nahezu teilnahmslos. Dabei waren es doch die Taliban, die das Image ihrer Religion dermaßen beschädigt haben.

Wagner: Viele Muslime sehen das gar nicht so und unterscheiden da zwischen den Taliban und Al-Kaida. Außerdem gab es in der islamischen Welt immer große Unzufriedenheit über die westliche Besetzung Afghanistans, die als Demütigung empfunden wurde. Nicht wenige sehen die Taliban als Freiheitskämpfer und fromme Muslime. Aber noch ist es zu früh, die Reaktionen der islamischen Länder zu bewerten. Man wartet dort noch ab und richtet die eigenen machtpolitischen Strategien dann neu aus. Es hängt jetzt viel davon ab, wie sich die Taliban auf der internationalen Bühne positionieren.