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Was ist das süße Leben?

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Foto: Melika, Adobe Stock

Das süße Leben: Ein Essay von Ahmet Aydin & Claudia Azizah Seise über Augenblicke des Genießens.

(iz). Medien, Werbung, Instagram und Facebook möchten uns glauben lassen, dass sie wissen, was wir brauchen, um glücklich zu sein. Sie gaukeln glattgebügelte und pastellfarben angestrichene perfekte, heile Lebenswelten vor. Hüllen, die oft leer sind. Doch die zeitlose Frage bleibt: Was braucht es wirklich, um das Leben zu genießen? Brauchen wir all die materiellen Dinge, die uns der Markt verspricht, um Zufriedenheit, Freude und Glück zu erlangen? Oder ist das Leben zu genießen nicht viel mehr eine Einstellungssache? In den kleinen und großen Momenten des Lebens die Süße zu finden und zu erkennen? Das Glas als halb voll zu betrachten anstatt als halb leer und sich so das Leben zu versüßen?

Claudia Azizah: Ich sitze auf der Terrasse eines einfachen Hauses in einem indonesischen Dorf. Es ist Regenzeit und das bedeutet teilweise sieben Tage Dauerregen. Der Regen rauscht und verwandelt die Straßen in Seen und Sümpfe. Die Wäsche trocknet nicht und die Kleidung beginnt zu schimmeln. Heißer, süßer Kaffee und gebratene Kochbananen versüßen jeden Regenvormittag und jeden stürmischen Nachmittag. Die Zeit scheint still zu stehen. Der Dampf des heißen Kaffees erzählt tropische Geheimnisse. Und unangekündigter Besuch macht das Teilen der Bratbananen zu Momenten fantastischen Geschichtenerzählens. 

Ahmet: Er sitzt auf der Couch und schaut sich Tierdokumentationen an. Meine Oma hat Tee gemacht. Mein Großvater staunt über das Tierreich und die Aufnahmen, die er sieht. Ich bin Student und komme immer mal wieder zu Besuch und erzähle ihm eine Geschichte, die ich gelesen habe, denn ich weiß, wenn ich beginne, fängt er irgendwann an mehr zu erzählen und es fallen ihm weitere Einzelheiten ein. Daraus werden Geschichten, die uns völlig woanders hintragen, um mit dem Satz zu enden: „Wie sind wir nun dahin gekommen…?“ Das ist mein Großvater. In der Zwischenzeit bringt meine Oma ungefragt geschältes Obst und sagt, wir sollen essen. Das ist meine Oma.

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Claudia Azizah: Eine ältere Tante sitzt in ihrem liebevoll eingerichteten Wohnzimmer in ihrem Eigenheim. Ihre Tochter mit Familie wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft. Sie hat einen im Frühjahr blühenden und im Sommer erntereichen Garten. Sie ist gesund. Scheinbar hat sie alles, was sie braucht und mehr als das. Doch nagt die Unzufriedenheit in ihr. Ihre Tochter kümmert sich nicht so wie sie es sich gewünscht hätte. Der Neid der Vergangenheit nagt in ihr und verdüstert das Schöne um sie herum. Mit ihren fast 80 Jahren dreht sich ihr Kopf noch immer um die scheinbar familiären Ungerechtigkeiten. Immer wieder wirft sie ihren Geschwistern vor, sie sei benachteiligt worden, emotional, finanziell. Wieso kann sich der Bruder ein neues Auto leisten? Wurde die Schwester mehr geliebt? Die Süße des Lebens vergällt, kann sie das Jetzt nicht genießen, erinnert sich an die dunklen Tage im Leben, anstatt die lichten Momente im Herzen zu tragen. 

Ahmet: Mein Großvater auf der Couch, Tee und Familienfrühstück. Kinder spielen und es ist laut. Jemand spricht meinen Großvater auf Miete und sein Recht auf ein Haus in der Türkei ein, diese und jene Person habe dieses und jenes getan. Er wird wütend und sagt, dass die Menschen sich verändert haben. Keiner interveniert, während jemand weiterhin lästert und dadurch die Atmosphäre vergiftet. Ich sage, dass Lästern verboten ist. Doch ich sei zu jung und würde nicht verstehen. Sie würden nur Wahrheiten aussprechen. Worüber wir reden, erbaut das Herz oder vergiftet es. Ich frage mich, was insbesondere am Lebensabend wertvoller ist…

Foto: golibtolibov, Adobe Stock

Claudia Azizah: Zu Corona-Zeiten waren viele Cafés geschlossen oder man konnte nur unter erschwerten Bedingungen gemütlich einen Kaffee genießen. Es war da, wo die bewährte, gute Thermoskanne bei uns wieder ihre Renaissance erlebte. Mit Kaffee gefüllt war sie unsere Begleiterin am Spreekanal, bei Gräfin Marie, dem ältesten Baum Berlins, im Tegeler Forst oder einfach auf dem Spielplatz. Den gemütlichen Kaffeegenuss haben wir uns nicht nehmen lassen. Wir haben diesen sogar auf die nächste Stufe gehoben. Unabhängiger Kaffeegenuss, ortsunabhängig, unabhängig von der Makrosituation um uns her, kontextualisiert, auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten. Das süße Leben praktisch in der Thermoskanne auf der Picknickdecke (drei Mal -ck- in einem Wort!). 

Ahmet: Mein Großvater ruft mich an. Er möchte einen alten Freund besuchen, der im Wolfenbütteler Krankenhaus stationiert ist. Angekommen sehen wir, dass sein Freund am Tropf hängt. Als dieser uns sieht, richtet er sich sofort auf und versucht zur Begrüßung aufzustehen. Mein Großvater sagt ihm, er solle liegen bleiben. Der Freund überhört das und möchte einen Stuhl holen, damit wir uns alle setzen können. So gehöre es sich, sagt er. Und Kaffee oder Tee dürfen auch nicht fehlen. Er fragt, was wir möchten. Es kann also schwer sein, Kaffee und Tee anzubieten. Es ist ein Luxus… Mein Großvater sagt: „Tee und Kaffee sind nur ein Vorwand – dieses Herz sucht einen Freund, einen Freund…“

Claudia Azizah: Ich bin etwas zu früh für einen Termin und muss noch 20 Minuten warten. Anstatt mich ins Wartezimmer zu setzen, laufe ich auf der Friedrichstraße in Berlin langsam ein Stück weiter und freue mich, dass sich ein kleiner Park vor mir auftut. Die Vormittagssonne des Frühlingstages scheint mir angenehm ins Gesicht. Die Kastanienbäume blühen in wunderschönem Dunkelrosa. Ich setze mich auf eine freie Bank, nehme meine Gebetskette aus der Tasche und mache diese Momente unter rosa Blüten im Sonnenschein zu einer ganz besonderen Zeit. Drei junge Frauen mit Kopftuch laufen an mir vorbei, lächeln mich an und sprechen im Chor Salam. Es ist ein fast magischer Moment, ein perfekter Moment, ein süßer Moment. 

Ahmet: Ich habe es noch nie jemandem erzählt. Ich war in Ankara. Eine Mitstudentin aus Göttingen ist bei mir. Ich bin Muslim, sie ist es nicht. Während wir zur Uni gehen, sehe ich einen Bekannten. Ein Freund hatte ihn mir vorgestellt. Zum ersten Mal sehe ich ihn alleine. Ich lächle und sage „Selamaleykum“. Er strahlt doppelt und dreifach zurück, sagt „Aleykumselam“, umarmt mich und wir freuen uns. Sie fragt, wie lange wir uns schon kennen, doch wir sehen uns erst zum zweiten Mal. Sie fragt, wie das denn gehe, dass wir uns so freuen, obwohl wir uns noch nicht kennen. Sie beobachtet es jedes Mal, wenn ich wen sehe. Die Freude über eine Begrüßung. Zwei Monate später sagt sie mir, dass sie nun Muslimin ist. Sie wisse jetzt, was ein Gruß wert sei…

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Foto: MDart10, Shutterstock

Hat die Entscheidung, „das süße Leben“ ins eigene Leben zu integrieren, etwas mit Dankbarkeit zu tun? Dankbar zu sein für das, was Allah uns gegeben hat. Dankbar sein für das, was wir haben und dann das Beste daraus zu machen. Dankbar sein, indem wir das Schöne in der Welt und in unserem Leben sehen und wahrnehmen. Dankbar sein für das, was ist und das, was war.

Hat die Entscheidung, das Leben zu genießen auch mit unserer eigenen inneren Einstellung zu tun? Indem wir versuchen in jeder Situation das Schöne zu sehen, das Positive wahrzunehmen und in erster Linie unseren Schöpfer und Seine Barmherzigkeit und Milde zu spüren. Ist diese innere Einstellung zu guter Letzt eine Form und Ausprägung unserer Dankbarkeit gegenüber Gott?

Das Leben ist nicht perfekt, schon gar kein Wunschkonzert. Es ist ein kosmologischer Test für die Menschheit, für jeden einzelnen Menschen und wir werden danach gefragt werden, was wir aus unserem Leben gemacht haben. Wir können nur das Beste aus unserem Leben machen, wenn wir es annehmen mit all seinen Höhen und Tiefen, Lichtern und Schatten, leichten Zeiten und schweren Zeiten.

Das „süße Leben“ ist eine innere Einstellung. Scheikh Rumi formuliert diese Einstellung in seinem „großen Diwan“: „Verfalle der Liebe und lasse Namen und Vermutungen sein, meide die Einzelheiten und auch die Falle; gib dem Stein den Namen des Goldes und dem Leiden und der Schwierigkeit den Namen der Süße.“

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