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Eine Stadt betört die Sinne

Ausgabe 265

Foto: juliamaudlin | Lizenz: CC BY 2.0

(iz). Ein mattes Ziegelsteinrot, das an die Gräber auf den roten Hü­geln meiner Geburtsstadt erinnert. Eine mysteriöse, melancholische, lautlos in das Herz eindringende Farbe, welche die großen Veränderungen um sich herum wehmütig wahrzunehmen scheint. In dieser Stadt ist man von der Personifizierung einer Farbe in gleichem Maße entfremdet und fasziniert. Die Farbe ist primordial-archaisch. Sie symbolisiert die Erde. Aus der Erde erschaffen, verspürt der Mensch hier eine aus Urzeiten stammende Erdverbundenheit.
Ein mattes Ziegelsteinrot. Für mich ein äußerst eindrucksvoller Gegensatz zu meiner gesättigt grünen, wasserreichen, von Hunderten von Flüssen, ja gewal­tigen Strömen überfluteten Heimat, das Land der auf feuchten Blättern glän­zenden, kristallklaren Tautropfen. Ich schließe meine Augen vor den ­goldenen Sandkörnern, die ein warm flüsternder Wind durch die raue Schönheit der Wüste trägt. Die Schönheit ist vielseitig. In ihrer archetypischen, reinen Form ist sie ein Ausdruck der ­Weisheit Gottes. Man könnte hier der Wirklichkeit näher rücken und dem laut­­losen Ruf seines eigenen Grabes folgen, während die Seele das sanfte Wehen eines seltenen, jedoch oft herbei ge­sehnten Windes vernimmt. Der Wind, die Seele und ihre Reise. Die großen Geheimnisse bleiben auch hier geheim. In der verborgenen, dennoch mysteriös offenkundigen Spiritualität dieser Stadt, liegt ihr Reiz – das letzte Erbe der sieben Gottesfreunde, die hier ruhen. Die aus allen Fugen berstende Modernität, die Suche nach dem ­“orientalischen Flair“ der zahlreichen europäischen Touristen, und der – besonders in der Hippie-Ära – heißersehnte Haschisch-Kick, dem man in Marokko so unbeschwert frönen kann, täuschen nicht über diese Tatsache ­hinweg.
Nach einem alten arabischen Sprichwort ist Tunesien eine Frau, Algerien ein Mann und Marokko ein Löwe. Der majestätische Löwe sitzt unter einem Baum, den Schatten suchend, und schaut blinzelnd in die Sonne. Es ist ruhig um ihn geworden, wie um die Gottesfreunde auch. Das Ziegelsteinrot schweigt und gedenkt inmitten des städtischen Trubels der Vergänglichkeit des Wüstenstaubes. Das Rot der Dürre, das Rot des Feuers, das Rot der Hitze: Alles entsteht nur, um zu verglühen…
Marrakesch ist die trockenste und heißeste Stadt des seltsam dualistisch geprägten Marokkos. Das Land liegt ­zwischen zwei Meeren, verbindet zwei Kontinente und ist die Heimat zweier, nicht verwandter Völker. Einst regierten Phönizier von Karthago (dem heutigen Tunesien) aus das Land. Nach der Er­oberung Karthagos durch die Römer wurde Volubilis, nahe Meknes, die Hauptstadt von Marokko. Die Römer nannten das Land Mauritania Tingitana. Marrakesch wurde im elften Jahrhundert von der Berberdynastie der Almoraviden gegründet.
Marrakesch war seit jeher ein Handelsplatz der Bauern und der Nomaden aus dem Hohen Atlas. Im Norden Marokkos erstreckt sich würdevoll der Mittlere Atlas, während im Süden der trockene Anti-Atlas mit resoluter Genauigkeit den Grenzen der Sahara folgt. Fern von der roten Stadt, dennoch verschwommen sichtbar, scheinen die ­Gipfel des schneebedeckten Atlas im morgendlichen Nebel den Himmel zu berühren. Wo sonst liegt der Orient so nah und doch so fern von der alltäglichen Realität, der man binnen weniger Stunden entfliehen kann, um sich in einer völlig anderen Welt wiederzufinden? Hohe Schilder auf der endlosen Hauptstraße „Mohammed V Avenue“ verkünden voller Stolz „Paris – Marrakech Euro 45“. Der Orient ist näher gerückt. Er ist kein in kühlen Pariser Ateliers entstandener Traum mehr, sondern eine für jedermann greifbare, nach seinen eigenen Träumen gestaltete, preiswerte Realität.
Marrakesch ist nicht zuletzt durch den französischen Exotismus des 19. Jahrhunderts – von Delacroix bis Matisse, von Flauberts Salammbô bis hin zu ­Pierre Lotis Au Maroc – zu einer repräsentativen Illusion per se geworden. Danach kamen die Amerikaner: Truman Capote, Paul Bowles, Jack Kerouac und die Dichter der Beat-Generation. Wohl aus Dankbarkeit dafür, dass Marokko im Jahre 1777 als erstes Land die neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika anerkannte. Hier in der Wüste entstand ein Teil eines Gedankengutes als kultureller Nachlass eines immer wieder nach einer eigenen Kultur suchenden Volkes. In den sechziger Jahren war Marrakesch das Lieblingsziel vieler Hippie-Dichter. In dieser als ewig mystisch und verblüffend fremd, dennoch als so menschlich nah wahrgenommenen Stadt fanden nicht wenige zum Islam.
Heute ist die Moderne tief in die Seele der Stadt eingedrungen. Es entstehen immer mehr Villen und Ferienhäuser, Hotels und Apartments. Auf den Dächern gedeihen Satellitenschüsseln, welche die demokratische Welt noch demokratischer in bescheidene Hütten wie in üppig ausgeschmückte Salons zaubern. In der Grabstätte der Sa’adidenkönige, einer der größten Attraktionen von Marrakesch, ist die Unverfrorenheit unserer Zeit deutlich spürbar. Die endlosen Menschenschlangen vor dem Eingangstor und die eifrigen Fotografen zeugen von einer Pietätlosigkeit, die erschaudern lässt. Hier ruht die berühmte Lalla Messaoud, Mutter des Königs Moulay Ahmed El Mansur, und hofft, wie ihre Familienmitglieder auch, auf eine Fatiha…
Der für die westliche Imagination herbeigeführte Zauber, nirgendwo von solch betörender Präsenz wie auf der Djemma El Fna, hat seine Wirkung nicht verloren.
Djemma El Fna: der Ort, an dem sich die Toten versammeln. Im Mittelalter fanden hier Hinrichtungen statt. Heute werden im Haschischdunst tote Seelen immer wieder erneut getötet. Still und hilflos ragt das alte Wahrzeichen, das Minarett der Qutubiyya, gen Himmel und beobachtet durch den Nebel der Düfte des Djemma El Fna das verschwommene, das ewig unwirkliche und von der Wirklichkeit entfremdende Spiel des Schlangenbeschwörers. Und friedlich ruhen die sieben Freunde Gottes, deren Nähe zu Ihm einst die Stadt in Segen hüllte.
Der Orient: ein unvermeidlicher Schauplatz der Illusionen. Nach dem französischem Exotismus kam Hollywood. In Hitchcocks „Der Mann, der zuviel wusste“ schreiten James Stewart und Doris Day durch die orientalischen Klänge des Djemma El Fna, ein farbenprächtiger, unheimlicher Ort der düsteren Machenschaften, und werden Zeugen eines Mordes während ihr Sohn entführt wird. In ihrem ersten Hollywoodfilm Marokko verlässt Marlene Dietrich, wie einst Radha dem Flötenspiel des Krishna folgend, ihren Gatten und ihr Heim und folgt wortlos, ihre Stöckelschuhe in den Sand werfend, dem Legionär Gary Cooper in die Wüste. Der Orient als ein die Sehnsüchte stillender, jenseits jeglicher Moralvorstellungen liegender Ort der ewigen Geheimnisse. Und unvergessen bleibt Humphrey Bogart in Casablanca. Ein Zyniker in der Wüste, welch grandiose Erfindung Hollywoods! Bogart, Claude Rains und Sidney Greenstreet verkörpern, jeder auf seine Art, die okzidentale Korruption des Geistes, die wie eine Epidemie durch die kolonialisierten Gebiete des Orients zieht. Wenn ein Ort seine Würde eingebüßt hat, verliert er jegliche Authentizität.
Das matte Ziegelsteinrot. Immer wieder erinnert es mich an die Gräber auf den roten Hügeln meiner Geburtsstadt. Ich denke an den großen Marokkaner Ibn Battuta, der vor nunmehr siebenhundert Jahren in meine gesättigt grüne, wasserreiche, von Hunderten von Flüssen, ja gewaltigen Strömen, überflutete Heimat reiste und sie folgendermaßen beschrieb, „Es ist ein Land, das sich weithin erstreckt, und in dem es Reis im Überfluss gibt. In keiner anderen Region dieser Erde finden sich so reichlich Lebensmittelvorräte“. Bis vor zwei Jahrhunderten war Bengalen die reichste Provinz Indiens. Heute ist es eines der ärmsten Länder der Welt und der steigende Meeresspiegel vernichtet mit dem salzigen Wasser die Reisernte.