Depolarisiert Euch! Ein Buch über das Lagerdenken

Ausgabe 304

Foto: Gage Skidmore

(iz). Ezra Klein gehört zu den profilierten liberalen Stimmen im US-amerikanischen Journa­lismus, sein Buch „Why we’re polarized“ lehrt vieles über das politische System der USA, was vor allem diesseits des Atlantiks unbekannt sein dürfte. Klein, Gründer und Chef des Online-Debattenportals vox.com, beginnt beim Wandel der politischen Farbenlehre in den USA zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung, um dann rasch auf Politik und politische Kommunikation in den Ären Obama und – natürlich – vor allem Trump zu kommen.

Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts waren die Republikaner, einst von Abraham Lincoln als Partei des Abolitionismus gegründet, liberal und föderalistisch, die Demo­kraten hingegen konservativ und partikularistisch. Die „Dixiekraten“ in den Südstaaten folgten dem alten Tugendrepublikanismus Jeffersons: jeder auf seiner kleinen Parzelle mit möglichst großer individueller Freiheit und möglichst wenig staatlicher Intervention. Wenig zufällig war einer der größten Ver­teidiger der Segregation der demokratische Präsident Woodrow Wilson (1913-1921). Weil aber die Demokraten Franklin Delano Roosevelt und Harry S. Truman ihr Land in den Zweiten Weltkrieg und dann in den ­Kalten Krieg führten und dabei sichtbar auf die Kooperation der afroamerikanischen ­Bevölkerung angewiesen waren, „wurde die Demokratische Partei immer mehr zu einem Vehikel zur Durchsetzung von Bürgerrechten“.

Hinzu kam: Als klassische Südstaatenpartei waren die Demokraten seit Ende des Bürgerkriegs 1865 die Partei des kleinen Mannes, eben des Kleinagrariers; denn die legendären großen Plantagenbesitzer waren im Süden stets nur eine verschwindend kleine Minderheit. Die boomende Industrialisierung nach dem Sezessionskrieg aber machte den US-amerikanischen Süden rasch zum Armenhaus des Landes und die Demokratische Partei zur Befürworterin staatlicher Umverteilung. Und irgendwann wollten die Demokraten „nicht einfach nur eine Umverteilung von reichen Weißen im Norden zu armen Weißen im Süden. Sie strebten auch eine Umverteilung von reicheren Weißen zu ärmeren Schwarzen an.“ So kam es in den 50er und 60er Jahren zum großen Paradigmenwechsel im amerikanischen Parteiensystem.

Der ging freilich nicht von heut auf morgen. Als Präsident Lyndon B. Johnnson 1964 den Civil Rights Act und damit die Gleichstellung von Weißen und Nicht-Weißen zur Abstimmung stellte, stimmten ihm von den republikanischen Senatoren fünf Viertel, von den demokratischen hingegen nur zwei ­Drittel zu. Und geradezu genüsslich betont Klein, dass der nachmals vielgehasste Republikaner Richard Nixon „als Präsident die Environmental Protection Agency, die Staatliche Umweltbehörde, schuf, über ein minimales Grundeinkommen nachdachte und einen Plan für ein nationales Gesundheitswesen vorlegte, der ambitionierter war als Obamacare“.

Die Moral von dieser Geschichte? Vor einem halben Jahrhundert waren die USA weniger polarisiert als heute. Die politische Farbenlehre war nicht so ausentwickelt wie heute, Republikaner stimmten für demokratische Positionen und umgekehrt. Aber waren die politischen Anschauungen in den USA deshalb auch weniger extremistisch?

Eben nicht, sagt Klein. Zwischen Polarität und Extremität bestehe eine Antiproportionalität. „In der Ära“, schreibt Klein, „in der Washington am wenigsten polarisiert war, ruhte der politische Konsens auf einem ­Fundament rassistischer Bigotterie, das die meisten von uns heute verabscheuenswürdig fänden. Die Kompromisse, die der Kongress einging, um den Frieden zu wahren, umfassten auch das Niederstimmen von Gesetzen gegen Lynchjustiz und die Übereinkunft, ­einem Großteil der Afroamerikaner den ­Zugang zu den Sozialsystemen zu verwehren. Ich würde das ein ideologisch weitaus extremeres System nennen als das, welches wir heute haben, auch wenn es weniger polarisiert war.“ Polarisierung dagegen erzeuge Polarisierung; doch bringe sie „keinen ­Extremismus hervor“.

Viel Platz verwendet Klein darauf, die psychologischen und soziologischen Muster zu ergründen, nach denen wir politische Entscheidungen treffen. Überhaupt ist seine Argumentation erfreulich psychologisch ausgerichtet. Er geht den „Subroutinen des Gehirns“ auf die Spur, spricht von unseren „aufeinandergestapelten Identitäten“ und mit dem Yale-Juristen Dan Kahan von ­„Identity-Protective Cognition“, also von „identitätsschützenden Denkfehler“: nur so sei es zu erklären, dass in einem Experiment „bessere Mathekenntnisse“ es „weniger wahrscheinlich“ machten, „dass die Probanden das Problem korrekt lösten, wenn eine ­korrekte Problemlösung ihre politischen Grundinstinkte verraten hätte. Die Leute nutzten ihr Denkvermögen nicht dazu, die richtige Antwort zu finden; sie nutzten es, um die von ihnen erwünschte Antwort zu bekommen.“

Kleins Buch ist voller solcher spannenden, wertvollen Erkenntnisse. So habe eine Umfrage gezeigt, „dass rassistische Ressentiments wirtschaftliche Ängste befeuerten und nicht umgekehrt.“ Man kann dem, nicht zuletzt aus linker Perspektive, widersprechen, aber es bestätigt die uralte Weisheit, wonach die Menschen nicht die Dinge beunruhigten, sondern ihre Anschauungen von den Dingen. „Alle Politik ist beeinflusst von Identität. Das liegt nicht daran, dass alle Politik eigentlich Identitätspolitik ist. Es liegt daran, dass unsere gesamte menschliche Wahrnehmung von Identität beeinflusst wird und Politik Teil der menschlichen Wahrnehmung ist.“ Die „Identarisierung“ der Politik wiederum bewirke ihre Polarisierung.

Doch Polarisierung ist eben „nicht Extremismus, sondern Sortierung“. Dass die USA so polarisiert seien, sei auch ein Zeichen dafür, dass extreme Positionen seltener geworden seien, betont Klein und zitiert zum Beweis Donald Trump, der sich nach der Wahlniederlage Mitt Romneys 2012 kritisch über dessen immigrantenfeindlichen Positionen geäußert hatte. Und „selbst Trumps unkontrolliertesten Ausbrüche, seine beleidigendsten Denkweisen wirken im Vergleich zu den Meinungen, die noch in der jüngsten Geschichte den Mainstream formten, ziemlich blass.“

Ähnliches ließe sich auch über Deutschland sagen. Schwärmereien von den alten bundesrepublikanischen Zeiten, von den ­Redeschlachten zwischen Strauß und Wehner, von den Brandts, Schmidts und Kohls, die nach der Bundestagsdebatte dann rauchend, lachend und schenkelklopfend beisammen saßen und „O Du schöner Westerwald“ sangen, finden sich deshalb nicht ohne Grund eher rechts der Mitte, wo man es eher mit Gelassenheit nimmt, dass bestimmte nach heutigen Maßstäben rassistische, chauvinistische oder klassistische Haltungen damals eben über die Parteigrenzen hinweg Konsens waren. Deutschland vor der Identitätspolitik, vor Diversity und Cancel Culture war vielleicht weniger polarisiert, dafür extremistischer.

Dennoch warnt Klein vor zu viel Polarisierung. Denn „eine Gesellschaft, die von einem Dutzend Widersprüchen zerrissen wird“, sei „in Wahrheit weniger in Gefahr (…), von Gewalt erschüttert zu werden oder auseinanderzudriften, als eine, die entlang einer ­einzelnen Linie gespalten ist.“

Die Extrapolation einer scharfen Frontlinie aus den einzelnen identitätspolitischen ­Debatten heraus habe zum Erfolg des Modells Trump (und dem der autoritären ­Gegenrevolte weltweit) beigetragen, so Ezra Kleins Botschaft. Und der Echokammercharakter dieser Debatten. Denn die „Masse“, die ländliche Bevölkerung, die nicht zwingend arm sein muss, werde durch die klassischen Medien nicht mehr erreicht und schaffe sich ihre eigene „informationelle Umgebung“.

Eine Diagnose, die man getrost auch der deutschen Medienlandschaft stellen darf: dass unsere Debatten um Cancel Culture und Postkolonialismus, die das Diskursjahr 2020 bislang bestimmt haben, den typischen AfD-Wähler (und zwar den „am Fließband“ ebenso wie den in der Zahnarzt-Villa) überhaupt erreichen: daran darf man schon zweifeln. Er ist gefangen in einer bestimmten habituellen „Superstruktur“. Und „ein Ausstieg aus dieser Superstruktur“, so Kleins nicht ganz überschwänglicher Appell, „erfordert Arbeit.“

Ezra Klein: Der tiefe Graben. Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika. Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Harlaß. Hoffmann & Campe 2020, 384 Seiten, Preis: EUR 25.-