
(iz). Der Homöopath und in Yunani-Medizin ausgebildete Naturheilkundler Hakim Archuletta. Im Gespräch (vor der Pandemie), spricht Dawood Yasin, Direktor des US-amerikanischen Zaytuna-Colleges, mit ihm über zeitgenössische Krankheiten, die sowohl die Seele als auch die Umwelt schädigen. Viele, so stellt Hakim fest, wollen ein Gefühl für sich selbst zurückgewinnen, weil sie sich in der Anziehungskraft und dem Druck der zeitgenössischen Anforderungen verloren glauben. Er fragt, ob Heilung möglich ist, ohne die Bereitschaft, unsere belastete Beziehung zum Göttlichen neu zu überdenken.
Frage: Ihre Ausbildung brachte Ihnen den Titel „Hakim“ ein, ein Titel für Praktiker der „islamischen Medizin“. Was interessierte sie am traditionellen Heilsystem, während viele im Westen, islamisches Recht, Arabisch oder andere klassische Wissenschaften studierten?
Hakim Archuletta: Als ich Muslim wurde, machte ich professionell Musik. Ich arbeitete im Theater, Drama, den schönen Künsten etc. Einer meiner ersten Lehrer im Islam sagte aufs Gesicht zu: „Du solltest Medizin studieren.“ Er hatte einen tiefen Einblick, denn ich interessierte mich für Naturheilkunde, seitdem ich ein Fachbuch in der Garage entdeckte, als ich noch im Kindergarten war. Diese Faszination hielt an, während ich als Kind und Teenager den Körper studierte. Mit 13 ging ich nach draußen, sammelte Wildpflanzen und versuchte, aus ihnen Salat und Essen für meine Familie zu machen. Natürlich waren sie nicht daran interessiert.
Mein Lehrer sah also etwas, das in mir geborgen war. Heutzutage ist es wegen sozialer und kultureller Veränderungen schwierig, Berufe zu finden, die man überhaupt als solche bezeichnen kann. Bis vor Kurzem waren die Menschen Schuhmacher, Bäcker, Gelehrte oder Heiler. Nachdem mir zur Medizin geraten wurde, begann ich, mich zu entdecken.
Ich wollte in der Medizin das Gleiche finden, das ich sah, als ich Muslim wurde: ein unglaubliches Meer an Wissen und Weisheit im Islam. Es dauerte lange Zeit, bis ich fündig wurde. Ich suchte überall, bis ich schließlich nach langer Suche auf Lehrer in Pakistan stieß. Ich fand meinen Lehrer, der mir sagte: „Ich lernte Medizin im Wald bei meinem Großvater.“ Da wusste ich: „Okay, das ist die Art Medizin, die ich gesucht habe.“
Frage: Was war an der freien Natur so wichtig für Ihre Ausbildung?
Hakim Archuletta: Ich denke, sie ist wesentlich für unser Training als Menschen, als menschliche Tiere. Die Leute verunglimpfen sie mit der Aussage, dass es nur Tiere seien. Die Wahrheit ist, dass Menschen häufig viel tiefer als sie sinken können. Sie bleiben zum größten Teil edel und indem, für was sie geschaffen wurden. Es sei denn, wir greifen ein.
Frage: In unserer Tradition und dem Qur’an wird für Zeichen (arab. ajat) das gleiche Wort wie für Gottes Zeichen in der Schöpfung benutzt. Wie lesen wir sie in einer zusehend menschengemachten Welt, in der die Natur an den Rand gedrängt wird? Was passiert den Leuten, wenn sie nicht länger die Werkzeuge besitzen, das zu tun?
Hakim Archuletta: Und was sind diese Mittel? Sie liegen im Selbst des Individuums und sind Daseins-Zustände. Wir reden heute über Natur und über unsere mögliche Entfremdung von ihr; selbst, wenn wir in den Wald gehen. Aber wir müssen erkennen, dass unser Selbst ebenso der Wald ist. Wir wollen in der Lage sein, uns authentisch mit dem zu verbinden, was wir sind und wozu wir von Gott geschaffen wurden. Es gibt dieses klassische Aussage: „Du gehst nach draußen, um zu lernen, was im Inneren ist. Und du blickst nach innen, um zu erfahren, was um dich herum liegt.“ Das ist eine großartige Idee, bis sie durch die Erfahrung, dass das gesamte Universum in uns, in unserem Wesen, enthalten ist, Wirklichkeit wird.
Es heißt von meinem Lehrer in Marokko, dass er im Ramadan, jeden Tag einen Vortrag hielt. Er begann jede Ansprache mit: „Was für eine wunderbare Sache das Selbst (arab. nafs) ist. In ihm ist der gesamte Kosmos enthalten.“
Frage: Die Vereinten Nationen gehen davon, dass beinahe der gesamte Bevölkerungszuwachs bis 2030 uns mehr als eine Milliarde Stadtbewohner bescheren wird. Glauben Sie, dass unser Verlangen nach einer Verbindung zur natürlichen Welt mit der Wirklichkeit in Einklang gebracht werden kann?
Hakim Archuletta: Bis zu einem gewissen Grad müssen wir das tun: Ich weiß nicht, wie viel davon heute möglich sein wird. Es ist aus dem Ruder geraten. Selbst Freud meinte, seine größte Furcht für die Menschheit bestehe in ihrer Entfremdung von Natur. Eine meiner Thesen lautet, dass wir den Grad verkennen, in dem wir die Natur und Gottes Plan herausgefordert haben. Wenn wir das tun, hat das Auswirkungen. Es wird immer offenkundiger, wie das eine Rolle für unsere körperliche Gesundheit spielt. Viele Krankheiten nehmen zu.
Ich hörte gerade einen Vortrag über die Ludditenbewegung im Vereinigten Königreich. Sie sorgten sich nicht um Verlust der Arbeitsplätze, was sie mit dem Aufkommen der Fabriken auch taten. Sondern sie waren besorgt, dass das Gefüge der Gesellschaft auseinandergerissen werden würde. Mit den neuen Fabriken verbrachten viele ihren ganzen Tag in dunklen Backsteinbauten.
Seit Kurzem ist es in aller Munde, wie wichtig es ist, sich draußen aufzuhalten und Vitamin D aus der Sonne zu gewinnen. Es geht nicht nur um Sonne und das, was aus ihr kommt, sondern zusätzlich darum, in Gottes Schöpfung zu sein. Das ist uns schrittweise abhandengekommen, bis zu dem Punkt, an dem wir in Gebäuden und Autos leben. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass wir in der Lage sind, die Konsequenzen vollständig zu begreifen, weil sie zu überwältigend sind, um sie wirklich zu sehen.
Frage: Nun haben wir über diese Entfremdung gesprochen, aber kann die natürliche Welt uns helfen, in diesem Zeitalter von Ablenkung und Trennung gegenwärtig zu sein? Was würde das heißen?
Hakim Archuletta: Nun, zu lernen in der Welt präsent zu sein – diesen Aspekt und diese Qualität des Lebendigseins zu entwickeln, wenn Sie es so ausdrücken wollen – ist unsere Natur. Es ist Fitra. Wann immer wir in der Natur sind, werden wir selbstverständlich erinnert, gegenwärtig zu sein. Wir haben diese Reinheit um uns herum. Wir können aber auch ins Grüne gehen und nichts davon haben. Das ist der andere Haken an der Sache: Die Leute können in ihren Körpern sein, aber sind es überhaupt nicht. Die Lehre der Reinigung des Selbst ist die Fähigkeit, gegenwärtig und authentisch zu sein. Was heißt das? Es bedeutet, mit dem verbunden zu sein, in dem Allah uns erschaffen hat. Und dann wiederum in der Lage zu sein, die umwerfende Wirklichkeit dieser Lebensperiode auf diesem Planeten zu sehen. Wir existieren nicht, um in unserem Körper gegenwärtig zu sein, aber ohne die Gegenwärtigkeit verlieren wir die Anbindung und Perspektive.
Als wir die ursprüngliche Frage „… bin ich nicht Euer Herr?“ bestätigten, legte Gott unsere Seelen in die Schöße unserer Mütter. Und diese bleibt in unseren Körpern als Embryo und Fötus. Und als wir in die Welt kamen, ist sie seitdem an diesem Ort. Und sie wird bleiben, bis Er sie von uns nimmt.
Wir können nach der Seele fragen: Was hat sie gemacht und wie ist sie jetzt? Funktioniert das Ganze oder nicht? Wenn wir profund genug fragen, könnten wir feststellen, dass sie vielleicht nicht sehr gut funktioniert. Wir haben einen Lebensstil geschaffen, der für ihre Gesundheit nicht angemessen ist. Aber wie können wir das beheben? Das könnte Entschlossenheit erfordern. Wenn wir Zugang zu unserem tiefen und wahren Selbst haben, können wir das. Dieses wahre Selbst ist unermesslich groß und kann nicht gezählt werden.
Einer der Gelehrten der islamischen Lehre sagte: „Der Mensch ist der kleine Kosmos. Und das Universum ist der große Mensch.“ Mein Lehrer sagte: „Ich habe im Wald Medizin gelernt. Wir lernen über den Wald, und wir lernen über das Muster, den Plan Allahs, die Natur des Lebens und das Selbst. Wenn wir etwas über das Selbst erfahren, begreifen wir etwas über die Realität der Natur und so weiter.“
Wie heilen wir die Entfremdung von uns? Das ist eine gute Frage. Aber ich glaube, dass Gott großzügig ist und Er uns Lehrer gibt. Und Er gibt uns Wissen. Imam al-Ghazali sagte immer, dass, wenn du aufrichtig bist, Gott dir senden wird, was du brauchst. Das ist eines der Wunder des Weges. Ich glaube, unser Auftrag als Muslime und als Menschen ist es, zu lernen, wie wir uns selbst und dann andere heilen können, damit wir erkennen können, was hier vor sich geht.
Die natürliche Welt bleibt. Wir müssen irgendwie aufwachen und uns bewusst werden, was das bedeutet. In der Lage sein, den Mond zu sehen, wie er ist. Wenn wir sehen, erleben und miterleben könnten, was in jedem Moment vor sich geht, dann würden wir wahrscheinlich die Fähigkeit verlieren, unsere natürliche Reaktion zu kontrollieren.
Frage: Vermittelt uns die natürliche Welt das nötige Wissen und die Fähigkeiten, wie wir uns selbst besser heilen können?
Hakim Archuletta: Das Verständnis für die Muster der Natur in Gottes Plan ist ein Anfangspunkt dafür, wie wir mit diesem Plan umgehen und ihn ehren können. Wir lernen zum Beispiel, Dinge nicht zu erzwingen.
Aber der Wald allein ist nicht genug. Wir brauchen auch Menschen, die erwachsen sind, die sich zurückhalten, die Grenzen haben, die mit sich selbst im Reinen sind – und je mehr diese Person im Reinen ist, desto mehr können wir von ihr profitieren. Früher war es so, dass es in einem Dorf verschiedene Menschen gab. Die meisten von uns haben immer noch eine Tante oder einen Onkel oder sogar einen Vater oder eine Mutter, mit denen sie Zeit verbringen und tatsächlich eine geistige Qualität von ihnen und ihrem gesunden Menschenverstand und ihrer guten menschlichen Natur erhalten können. (Renovatio)
Der Gesamttext des englischen Interviews wurde am 24. März 2021 in „Renovatio“, dem Magazin des US-amerikanischen Zaytuna-College veröffentlicht.