„Keine muslimische Familie träumt davon, ihr Kind in einem sinnlosen und grausamen Krieg in Syrien, Palästina, Irak oder sonstwo zu verlieren.“
(iz). In Deutschland und Europa ist der Teufel los, so scheint es vielen. Die pluralen Gesellschaften werden sich ihrer Heterogenität immer mehr bewusst, oft aber unfreiwillig. Da gibt es nicht nur demokratietreue Christen mit europäischen Wurzeln; nein, es gibt undemokratische Nationalisten, Muslime mit europäischen Wurzeln, extremistische Christen, demokratische Muslime mit außereuropäischen Wurzeln und viele andere Konstellationen.
Dennoch haben Muslime das Problem, von der Mehrheitsgesellschaft als Einheit wahrgenommen zu werden – undemokratisch und uneuropäisch, aggressiv und gefährlich. Die Tatsache, dass die muslimische Community selbstverständlich genauso plural, wenn nicht sogar noch pluraler und uneinheitlicher, wie die christliche ist, sollte sich zwar jedem erschließen, tut es aber leider nicht. Die Muslime in Europa setzen sich aus vielen verschiedenen Richtungen, Rechtsschulen und Minderheiten zusammen. Sie kommen aus vielen unterschiedlichen Kulturräumen (Nordafrika, Asien, Balkan, Zentraleuropa, usw.). Und da fühlt man sich in Deutschland an sich ja schon bei seinen direkten Nachbarn kulturell fremd (Rumänien, Griechenland,…). Was sollen dann erst die Muslime sagen?
Was uns in den letzten Jahren verbindet, ist Diskriminierung und ein ständig über muslimischen Gemeinden, aber auch Einzelpersonen schwebender mehr oder weniger konkreter Terrorverdacht. Da es zur Verdachtsäußerung keine konkreten Beweise braucht, und jeder mögliche Anlass ausreicht, um diesen zu erhärten, ist es so gut wie unmöglich, als muslimische Community effektiv dagegen vorzugehen. So gibt es nur einen gehbaren Weg: „Wir distanzieren uns!“ Vom Extremismus, vom Terrorismus, von Gewalt, von Demokratiefeindlichkeit (…). von der Gesellschaft? Die ständige Distanzierung wird langsam zur Farce, denn es wird zum einen in seiner Breite und Deutlichkeit kaum wahrgenommen (weder von Medien noch der Mehrheitsgesellschaft), und zum anderen ist es eine Abgrenzungsaussage, die trotz ihren inhaltlich positiven Aussagen als negativ wahrgenommen wird: ein „wir sind nicht!“ mit dem Unterton eines „wir sind auch nicht Teil dieser Gesellschaft.“
Denn trotz der ganzen Distanzierungen bleibt doch Folgendes hängen: Muslime, Islam, muslimische Gemeinschaften – Terror, Extremismus, Mord und Gefahr. Das „Nicht“, das „wir distanzieren uns“, bleibt nicht hängen, geht zwischen diesen starken, emotional besetzten Begriffen unter. Wie fatal: Durch das ganze Distanzieren verfestigen wir sprachlich den wahrgenommenen Zusammenhang von Islam und Gewalt. Und doch haben wir kaum eine andere Wahl, wir distanzieren uns weiter.
Aber Folgendes sollte auch wahrgenommen werden: Ich distanziere mich zwar als Muslimin von Extremismus, aber auch als Deutsche von Pegida und Fremdenfeindlichkeit und als Mensch von Gewalt, Mord und Unterdrückung. Ich bin inzwischen ein „Distanzier-Bürger“ geworden. Die Tatsache, dass ich das alles nicht beweisen kann, hat zur Folge, dass an mir ein „Restverdacht“ hängenbleibt, der stärker wird, um so öfter ich mich distanziere. Ganz nach dem deutschen Sprichwort: Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Und dennoch, nach den Anschlägen in Paris höre und lese ich von allen Seiten: Muslim, distanziere dich (endlich)!
Selbst aus akademischen Kreisen, die sich mit dem Islam befassen und denen doch eine professionelle Einschätzung der Lage der Muslime in Europa zuzutrauen wäre. Also distanziere ich mich als guter „Distanzier-Bürger“ erneut: von Gewalt, von Extremismus, von Mord (…) von der Gesellschaft? Ein bisschen Sorge macht mir die Sache mittlerweilen doch. Hat man meine ganze Distanzierung und die der muslimischen Community in den letzten Jahren denn gar nicht wahrgenommen?
Was, wenn ich und andere Muslime irgendwann einfach keine Lust mehr haben, uns zu distanzieren? Erste Ermüdungserscheinungen sind in meinem Umfeld schon auszumachen. Weiß denn außerdem jeder „Distanzier-Bürger“ inzwischen wirklich noch, von was genau er sich da immer jeweils distanziert? Muss mein 10-jähriger Sohn die politisch, religiös, militärisch und geschichtlich enorm verzwickte Lage in Syrien wirklich seinen Klassenkameraden oder gar Lehrern erklären und Stellung dazu beziehen müssen? Soll meine 13-jährige Tochter tatsächlich die kulturellen und sozial-politischen Probleme in Afghanistan aufs genaueste darlegen und somit das Kopftuchtragen ihrer Mutter verteidigen müssen? Kann von einem Arbeiter mit niedrigem Bildungsniveau wirklich verlangt werden, jeden Terroranschlag weltweit religiös, politisch und theologisch korrekt einzuschätzen und seinen Glauben zu rechtfertigen? Das ist nicht nur eine Überforderung dieser Menschen, sondern einfach gemein.
Doch eine weitere Gefahr, die sich beim ganzen Zwang zur Distanzierung auftut, ist die, dass damit eine effektive Extremismusbekämpfung innerhalb der muslimischen Gemeinden erschwert oder sogar verhindert wird. Denn die Tatsache, dass es extremistische Muslime in jeder Gemeinde gibt, ist genauso klar, wie es tatsächlich noch heute eine nicht unbeträchtliche Anzahl an nationalistischen Deutsche in Deutschland und gewaltbereite Christen in Kirchengemeinden gibt. Doch welche muslimische Gemeinde würde es wagen, dies in der momentanen so schwierigen Situation des Generalverdachtes offen zuzugeben? Es ist keinerlei Anerkennung für solch einen Schritt zu erwarten, sondern nur eine breite und aggressive Form eines: „Haben wir es doch gewusst, das ganze Distanzieren, alles Lüge.“ Aus Angst, das wenige Vertrauen, das es noch gegenüber den Gemeinschaften und Muslimen gibt, ganz zu verspielen und inzwischen auch aus Angst vor mehr und heftigeren Angriffen – verbal gegen Moscheegemeinden, mit Übergriffen auf Gebäude, aber inzwischen auch körperlich gegen Musliminnen und Muslime – lässt sie verstummen.
Doch eins sollte uns Deutschen unbedingt klar werden: Egal, was jeder einzelne vom Islam und Muslimen denkt, sie sind in Deutschland und man kann sie nicht mehr aus Deutschland „entfernen“. Wollen wir in Zukunft ein friedliches und gemeinsames Miteinander in der Gesellschaft, muss alles getan werden, um die muslimischen Gemeinschaften und Musliminnen und Muslime darin zu unterstützen, Extremismus zu bekämpfen und den friedlichen und weltoffenen Islam in Deutschland und Europa zu etablieren. Dafür braucht es ein Zurückfahren des ständigen Zwangs zur Distanzierung, es wurde inzwischen genug distanziert.
Es braucht einen großen Vertrauensvorschuss gegenüber der muslimischen Community; egal, wie schwer es dem Einzelnen fallen sollte. Es braucht sinnvolle Konzepte (diese Aufforderung geht an unsere Universitäten und Intellektuellen) und, wie unschön es auch wider klingen mag, es braucht Geld. Um professionelle Präventionsmaßnahmen erarbeiten und Umsätzen zu können, braucht es Geld, das die Gemeinden zum größten Teil aufgrund ihrer ehrenamtlichen Struktur nicht haben. Und noch viel wichtiger: Es brauch Anerkennung. Eine Gemeinde, die es wagt, Mitglieder mit extremen Ansichten aus ihrer Gemeinschaft offen zu nennen und gegen sie vorzugehen, muss dafür Anerkennung bekommen und nicht ab diesen Zeitpunkt als Herd des Terrorismus verpönt sein und überwacht werden.
Keine muslimische Familie träumt davon, ihr Kind in einem sinnlosen und grausamen Krieg in Syrien, Palästina, Irak oder sonstwo zu verlieren. Wir lieben unsere Kinder, wir sind Menschen. Wir Muslime wollen uns – nach Innen und nach Außen – davor wehren, instrumentalisiert aber auch pauschalisiert zu werden. Wir haben genauso Angst vor den Terroristen wie der Rest. Wir wollen nicht auch noch Angst vor Übergriffen haben. Wir wollen zur Gesellschaft dazugehören, mit unseren Fehlern, Schwächen und Eigenarten. Nicht mehr Distanzieren, Agieren sollte die neue Devise sein.