Die IZ-Blogger: Was wir mit der Flüchtlingskrise zu tun haben. Ein Kommentar von Yasin Baş

(iz). Deutschland, das selbst aus seiner Geschichte Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung hat, kann in der Asylfrage durchaus mehr Empathie, Solidarität wie auch Verantwortung zeigen und tut dies erfreulicherweise auch. Hierbei ist anzumerken, dass die Bundesrepublik im Gegensatz zu Großbritannien, Frankreich oder Italien deutlich mehr leistet.

Nichtsdestotrotz ist es die Absicht vieler europäischer Staaten, in erster Linie qualifizierte Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Die Unterscheidung von manchen Politikern, Fachleuten und Behördenvertretern zwischen qualifizierten und unqualifizierten Migranten ist in humanitärer Sicht heikel, da hiermit Kategorien wie „wertvoll“ und „minderwertig“ assoziiert werden können. Die so oft beschworene „Willkommenskultur“ muss in der gesamten Europäischen Union für alle Menschen gelten können.

Es ist traurig hören zu müssen, dass diplomatische Vertretungen zum Beispiel in Albanien Zeitungsanzeigen schalten und der Bevölkerung die Botschaft verkündet wird, dass „Akademiker und qualifizierte Fachkräfte in einzelnen Berufen” durchaus gesucht würden, jedoch andere Asylanträge keinen Sinn hätten.

Orbán gegen die Aufnahme von Muslimen in Europa
In diesem Zusammenhang ist die abfällige Äußerung von Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán über muslimische Flüchtlinge rassistisch und inhuman. Der konservative Regierungschef sprach sich im Staatsrundfunk gegen die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge aus und bezeichnete die derzeitige Flüchtlingskrise als „deutsches Problem“. Wenig später ließ Orbán die Flüchtlinge durch seine Sicherheitsbehörden zusammenknüppeln.

//1//Auch andere ost- und südosteuropäische EU-Mitglieder, die ähnliche antimuslimische Statements über Flüchtlinge abgeben, haben wohl vergessen, dass es sich hier um Menschen handelt, die jede Hilfe benötigen. Sie sind wegen Ausgrenzung, politischer Unterdrückung, Gewalt, Terrorismus, Krieg, Hunger oder Krankheiten auf der Flucht.

Was haben wir mit der Flüchtlingsproblematik zu tun?
An der humanitären Krise, die nicht nur Europas Demographie und Sozialgefüge nachhaltig transformiert, sind auch wir, unsere Staatspolitiker und Wirtschaftslobbyisten mitverantwortlich. Wir sind es nämlich, die durch den unaufhaltsamen Konsum, aber auch den Absatz von ständig wechselnden und neuen Gütern, wirtschaftlich-finanziellen Druck erzeugen. Unsere – im Vergleich – luxuriösen Lebensgewohnheiten führen zu Verschuldung und Verarmung in den Krisengebieten. Unsere leitindexorientierten Augen und die Gier am Börsenparkett tragen weiter zur Anspannung der Lage bei.

Wir sind es ferner, die Unmengen an Waffen in diese Krisenregionen absetzen. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken hervorgeht, wurden in den ersten sechs Monaten des Jahres 2015 schon Waffenausfuhren von insgesamt 6,35 Milliarden Euro genehmigt. Damit gehören wir beim Verkauf von militärischer Ausrüstung zu den größten Lieferanten auf der Welt. Mit diesen Waffen werden bedauerlicherweise keine Spiele gespielt oder Hollywoodfilme gedreht.

Wir entscheiden, welche politischen Gruppen oder Milizen wir in den Krisenstaaten mit Waffen, Informationen, Geld oder Logistik unterstützen. Kurz: Wir sind es, die aus ökonomischen, strategischen und politischen Intentionen in Konflikte involviert sind. Damit müssen wir – auch wenn es uns schwerfallen mag – zugeben, dass wir eine nicht zu unterschätzende Verantwortung bei den derzeitigen Krisen besitzen.

Die Menschen kommen zu uns, weil sie im „besseren System“ ein besseres Leben möchten
Die Menschen, die nicht aus einer Laune oder Langeweile zu uns fliehen, waren einst glücklich in ihren Dörfern und Städten. Aber die Kriege im Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien und vielen Staaten in Afrika (Somalia, Eritrea, Sierra Leone, Nigeria, Sudan etc.), der so genannte „Arabische Frühling“, der sehr schnell verpuffte und in großen Teilen noch mehr Chaos als zuvor produzierte, führen jetzt zu „Völkerwanderungen“ innerhalb der Erde. Eine Expertin, die sich mit dem Thema beschäftigt, sagt: „Wir wollten diesen Menschen lange unsere Demokratie und westliche Zivilisation – ungefragt – hinbringen. Jetzt kommen diese Menschen zu uns, um sich diese – ungefragt – mit gutem Recht bei uns abzuholen.“

Außerdem seien wir immer davon ausgegangen, dass wir stets das „bessere System“ und die „Anderen“ das „schlechtere System“ hätten. Auch diese Überheblichkeit und Arroganz führe die Flüchtlinge nun zu uns. „Sie wollen ein bessres Leben in unserem ‘besseren’ System“.

Menschenrecht auf Grundbedürfnisse
Niemand verlässt ohne Not seine Freunde, Familie, Bekannte oder sein Land. Die Flüchtlinge wollen Sicherheit, ein Dach über den Kopf oder Nahrung. Oftmals sind sie traumatisiert und mit ihren Kräften am Ende. Es sind die menschlichen Primärbedürfnisse, auf die sie hier und jetzt angewiesen sind. Unsere Gemeinden und Städte stehen in der Pflicht, wie auch die großen Religionsgemeinschaften – insbesondere die muslimischen Gemeinden in Deutschland. Jede einzelne Person kann jetzt helfen, teilen und solidarisch sein.

Türkei leistet „mehr als jedes andere Land auf der Welt“
In Deutschland wurden nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge 2014 173.072 Asylanträge gestellt. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres suchten offiziell 125.972 Personen nach Schutz in der Bundesrepublik. Derzeit wird von einer Zahl von etwa 450.000 gesprochen. Diese Zahlen fallen jedoch im Gegensatz zu dem, was vergleichsweise die Türkei derzeit leistet weniger ins Gewicht. Die UNO-Flüchtlingshilfe berichtet, dass die Türkei allein zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen habe. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) geht davon aus, dass sich die Zahl der Flüchtlinge noch in diesem Jahr auf 2,5 Millionen erhöhen werde. Dies alles zeigt, dass die Flüchtlingspolitik einer Gesamtstrategie bedarf.

Autoreninfo: Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”.

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