
Die Zeit im Ramadan: Unsere Erfahrung des Fastens inspiriert zu philosophischen Überlegungen.
(iz). Zu den eindrücklichen Erfahrungen des Fastens gehört die existentielle Zeiterfahrung. Wir alle kennen das Phänomen: die Zeit, die man ohne Trinken und Essen verbringt, kann lang werden.
„Eine Stunde kann je nach unserer Stimmung, unserem Lebensalter oder unserer Tätigkeit dahinkriechen oder dahinrasen, sich beschleunigen oder verlangsamen, aber auf der Uhr ist jede Stunde gleich“, schreibt die Philosophin Jose Hermsen. In ihrem Buch über die Kunst des „Kairos“ weist sie auf eine andere Zeiterfahrung hin, die – so die Überlegung – ebenso zum Ramadan gehört.
„Während Chronos für die universelle, statische und quantitative Zeit steht, die notwendig ist, um die Zeit in einen linearen Zusammenhang zu versetzen, steht Kairos für den subjektiven, dynamischen und qualitativen Moment, der gerade den spezifischen und sich ständig verändernden Umständen Rechnung trägt und darum zu einem Wandel der Erkenntnis führen kann.“
Das Ziel des Fastens im Ramadan
Ein Ziel der Enthaltsamkeit ist es (und darin liegt die Schwierigkeit), die Erwartung auf den besonderen Moment stets hochzuhalten. Wir sollten nachdenken über den Doppelcharakter der Zeit: den Unterschied zwischen der chronologisch vorgestellten Uhrzeit und den Augenblicken, wo sie die Möglichkeit einer erweiterten Erfahrung des Bewusstseins birgt.
Für die griechischen Dichter war Kairos „alles, was für den Menschen gut ist.“ Die Segnungen des Ramadans beschränken sich nicht nur auf den positiven Einfluss auf unsere Gesundheit. Vielmehr eröffnet sich ein Erfahrungsraum der Besinnung und Selbstreflexion stimuliert. Im Moment des Stillstands und der Aufmerksamkeit sehen wir eine Zäsur in den gewohnten Ereignisketten und die Möglichkeit echter Veränderung.
Es gehört zu den Besonderheiten der Zeit, dass es leichter fallen kann, auf Essen oder Trinken zu verzichten, als auf die Nutzung des Smartphones. Wir sollten gerade am Ende des Ramadans die Gelegenheit ergreifen, unser Verhältnis zur Technologie zu hinterfragen.
Was ist es, was einen bewussten Verzicht auf den permanenten Online-Zustand so schwer macht? Der Philosoph Henri Bergson schrieb schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts über die Schwierigkeit in der Moderne, sich wiederzufinden. „Die meiste Zeit leben wir unserer selbst äußerlich, wir gewahren von unserem Ich nur sein entfärbtes Phantom, den Schatten (…). Wir leben eher für die Außenwelt als für uns (…) eher als daß wir selbst handeln, werden wir gehandelt.“ Während des Ramadans erleben wir die Möglichkeit, uns im Gebet von der Dominanz der äußeren Welt immer wieder zu befreien.
Ramadan als Gleichgewicht zwischen Innen und Außen
Letztendlich streben wir in diesem Monat eine Balance dieser beiden Aspekte an. Wir versuchen, die Prioritäten unserer Wahrnehmung richtig zu setzen; anstatt nur die Zeit totzuschlagen. „Die innere Emigration funktioniert nicht mehr, weil die Infiltration des Realen uns in jedem Rückzugsraum einholt“, stellt der Philosoph Peter Sloterdijk in einem Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“ treffend fest.
Wichtige Phänomene, deren Bedeutung wir insbesondere in der Fastenzeit zu ergründen versuchen, kann man nicht simpel verdrängen. Wir nehmen zum Beispiel bewusst die tragische und verzweifelte Situation der Palästinenser war. Uns erreichen die Bilder von ihrem Fastenbrechen in einer Trümmerwelt und wir empören uns über die Gewalt, der sie auch in diesem heiligen Monat ausgesetzt sind. Die Bittgebete, die wir gemeinsam in der Nacht sprechen, erinnern daran.
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In diesen Tagen ist häufig von einer „Zeitenwende“ die Rede. Blicken wir auf die hinter uns liegenden Jahrzehnte zurück, wurde das Fasten lange vorrangig als Gegenbewegung zur Konsumgesellschaft gesehen. Heute ist es vor allem die Angst und die Depression, Ablenkung und Zerstreuung, die das Seelenleben gefährden, Zustände, denen wir uns mit den Riten und dem daraus resultierenden Vertrauen auf eine höhere Wirklichkeit entziehen.
Um dieses Potenzial für uns offen zu halten, müssen wir vorsichtig mit den äußeren Eindrücken sein, die einen erreichen. Die Unterscheidung, was tatsächlich wichtig ist oder was nicht, gehört zu den bedeutsamen Übungen dieser Zeit.
Die Griechen hatten die Tragödie – was bringt uns Katharsis?
In der griechischen Philosophie sind es die Tragödien, die dem Menschen die Bewältigung der Affekte von Furcht und Mitleid aufzeigen sollen und zu einer „Kartharsis“, einer Reinigung, führen sollen.
Aristoteles argumentierte, dass die Affektbeeinflussung nicht schädlich sei. Denn der Ablauf der Tragödien mit ihrer Lösung des Konfliktes befreit uns von dem Druck, der durch sie erregten Affekten. Sein Lehrer Platon war skeptisch angesichts dieser Form der Reinigung. Er befürchtete generell, dass geistige und emotionale Einflüsse in der Seele eine unbeherrschbare, oft negative Eigendynamik entfalten.
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In diesem Jahrhundert erleben wir zahlreiche Tragödien, Kriege und Herausforderungen, von denen man sagt, dass es keine simplen Lösungen mehr gibt. Die Flut der Bilder, die Darstellung von Gewalt und Exzessen, die Vielzahl wahrer und falscher Informationen beeinflussen den eigenen Zustand unbemerkt. Man neigt heute dazu, gerade wenn man an irrationale Gewaltausbrüche denkt, die Einwände Platons wieder ernster zu nehmen. Der Blick in die Abgründe unserer Zeit bleibt nicht folgenlos.
Der Ramadan ist eine ungewöhnliche Zeit und die uns zugeeignete Form der Reinigung, die unseren Körper, unser Denken und unseren Glauben erneuert. Die besonderen Momente dieses Monates kann man nicht erzwingen, man muss sich in der Offenheit für sie halten.
Jede Nacht erleben wir gemeinsam den Klangraum der Offenbarung und die Macht göttlicher Inspiration. Es ist der Monat Ramadan, in welchem der Qur’an als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt wurde, der die Zeichen der Wahrheit inne hat und das Richtige vom Falschen trennt (Al-Baqara, 2/185).
Angesichts der Lage des Menschen im 21. Jahrhundert ist tiefes Gottvertrauen und unumstößliche Zuversicht notwendiger denn je.