Eine Kritik des reinen Gefühls

Ausgabe 290

Foto: Freepiks

(iz). Eine Definition für Einfühlungsvermögen oder Empathie lautet „Miterleben der Situation eines anderen“. Es findet in zwei Schritten statt. Zuerst kommt die Übernahme einer Perspektive, dann das Teilen einer Emotion. Es handelt sich um die ­Wahrnehmung der Gefühle anderer Menschen.

Seit geraumer Zeit werden wir überhäuft mit einer Sicht auf das Einfühlungsvermögen als dem Schlüssel zur Verbesserung der Menschheit. Von Instagram-Selfies mit Zitaten über den Wert des „Einfühlenden“ bis zu bedeutenden Denkern wie Martha Nussman und Steven Pinker wird allerorten über die Iden­tifikation mit Dritten geschrieben. Wie sich aber herausgestellt hat, kann Em­pathie tatsächlich (auch nur) der letzte Schrei sein.

Professor Fritz Breithaupt (dessen ­aktuelles Buch bei Cornell University Press erscheinen wird) hat umfangreich über negative Aspekte im Zusammenhang mit Einfühlungsvermögen geschrieben. Ihm zufolge könne es – zusätzlich zur Empathie-Altruismus-Hypothese, die Einfühlungsvermögen mit sozialem Verhalten verbindet – auch zum Anstieg von Negativverhalten führen.

Zusammen mit Breithaupt melden sich einige kritische Stimmen, die argumentieren, dass Einfühlungsvermögen nicht notwendigerweise ethisch korrekte Entscheidungen unterstützt. Paul Bloom, Professor an der Universität Yale und ­Autor von „Against Empathy: The Case for Rational Compassion“, beschreibt Einfühlungsvermögen als: „… ein Mittel zur kurzzeitigen Konzentration von Aufmerksamkeit auf ein individuelles Schicksal, während das größere Bild, langfristige Lösungen und eine größere Anzahl ­Menschen vernachlässigt werden. Wir helfen der Person, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenkt, nur für eine kurze Dauer.“

Dies ist in der Sozialpsychologie als der Spotlight-Effekt bekannt. Dieser lenkt die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Szene oder Person. Auf diese Art kann Empathie manipulieren, da unser Urteilsvermögen durch solche getrübt werden kann, die geübt darin sind, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dies kommt häufig vor, wenn wir uns mehrere Seiten des Dramas anhören müssen, das sich in unseren Freundschaftskreisen­ abspielt. Aber dies gilt auch in größerem Maßstab, da „die Menschen bereit sind, einem hungrigen Kind in einem Werbespot Zeit und Geld zu spenden, aber nicht vergleichbar mobilisiert werden, wenn es sich um das Schicksal von Tausenden geht, die unter Hunger oder ­Bürgerkrieg leiden“ (P. Bloom). Unsere moralische Empörung ist bestimmten ­Situationen vorbehalten und kann häufig durch Beeinflussung hervorgerufen werden.

Empathie kann auch Gräben vertiefen, anstatt sie zu verringern. Breithaupt erklärt das wie folgt: „Im Allgemeinen gilt, wenn jemand zur Empathie mit Menschen neigt, kann  dies ihn oder sie dazu führen, mit deren Meinungen übereinzustimmen, ihre Gefühle zu teilen und ihre Standpunkte anzunehmen. (…) Wenn die einfühlende Person einige Vorlieben des Ziels ihres Einfühlungsvermögens teilt, ist es wahrscheinlich, dass Abneigungen gegen die andere Seite ebenfalls geteilt werden.“ Auf diese Weise wird die Kluft zwischen „uns“ und „ihnen“ durch Empathie verstärkt, wobei es dabei doch darum geht, die Perspektive eines anderen zu teilen. Die andere Seite wird unausweichlich als unsympathisch, ungerecht, nicht erstrebenswert, falsch oder schlecht auf der Basis dessen beschrieben, dass „je stärker man für eine gewählte Seite fühlt und je stärker die Empathie ist, […] die andere Seite“ desto negativer erscheine. Das Hegen von Abneigung für den Konkurrenten des Ziels unseres ­Einfühlungsvermögens löst auch einen starken Reiz für Rache und Aggression aus.

2014 stellten die PsychologInnen ­Anneke Buffone und Michael Poulin die Hypothese auf, dass Empathie im Namen eines Empathieziels zu Aggression führen könnte. Sie teilten die Testteilnehmer in zwei Gruppen ein und jede Gruppe erhielt einen von einem Studenten verfassten Aufsatz. Der Text der ­ersten Gruppe wurde von einem Studenten geschrieben, der schrieb: „Ich habe noch niemals so wenig Mittel gehabt und das macht mir wirklich Angst.“ Der ­Aufsatz für die zweite Testgruppe war einem Studenten, der ebenfalls finanziell belastet war, aber sich darüber keine Sorgen machte. Darin hieß es: „Ich habe noch niemals so wenige Mittel gehabt, aber das kümmert mich nicht wirklich.“

Den TeilnehmerInnen wurde dann mitgeteilt, dass der Student, über den sie gerade gelesen hatten, im Begriff war, an einem Mathematikwettbewerb teilzunehmen (mit einer anderen unbekannten Person), und dass die Teilnehmer entscheiden sollten, wie viel scharfe Soße der Teilnehmer zu sich nehmen müsste. Die Teilnehmer, deren Studentin angab, dass sie in Not war, entschieden sich dafür, ihrem Konkurrenten mehr scharfe Soße zu geben. Dieser Mitbewerber hatte keinerlei Anteil an den Sorgen der Studentin, wurde aber nichtsdestotrotz zum Ziel von Aggression. Das veranlasste die Forscher zur Schlussfolgerung, „dass Einfühlungsvermögen jedes Mal Aggression fördern kann, wenn solche Aggression entscheidend dabei ist, dem Ziel von Empathie zu helfen – ungeachtet dessen, ob solche Aggressionen gerecht oder moralisch gesund sind“. Das könne sich überall ereignen – vom Spielplatz bis zu umfangreichen Aggressionen von Bandenmitgliedern oder Terroristen.

Es ist wahr, dass Menschen, Situa­tionen und Perspektiven (dankenswerterweise) zur Änderung befähigt sind. Gehen wir davon aus, dass ich eine ­Perspektive einnehme und gewillt bin, mich in den anderen einzufühlen. Wenn deren Perspektive wechselt, hält meine einseitige Empathie dann an? Wahrscheinlich schon.

Was ist mit dem Fall, in dem Einfühlungsvermögen mit unethischen Mitteln oder gar durch einen aufwändigen (oder nicht so aufwändigen) Schwindel hervorgerufen wird? Soziale Medien werden zum Mittel der Polarisierung, um unter dem Deckmantel von Empathie zu gedeihen. Gemeinsam mit dem Spotlight-Effekt steuern wir auf das zu, was ­Meghan Daum als „verheerende Art eines moralischen Rätsels“ beschreibt.

Daum veröffentlichte kürzlich einen Text, in dem sie die Idee des Gruppengefühls erläuterte: „Wenn sich Gruppendenken ereignet, wenn die Leute sich ihre Fakten herauspicken, dann kommt es zu Gruppenfühlen. Das heißt, es liegen nicht genug Fakten vor, mit denen gear­beitet werden kann, tauscht man Logik gegen Emotionen ein und tut  die Realität als Formsache ab.“

Ein weiterer negativer Aspekt besteht darin, was Stanley Cavell als „Vampirismus“ bezeichnete. Empathischer Vampirismus bezieht sich auf „den Prozess des gemeinsamen Teilens von Erfahrungen und sie über die Zeit zur eigenen werden zu lassen – ohne die Sorge um das langfristige Wohlergehen des Anderen als ein unabhängiges Wesen“. Der Mitfühlende wird bestärkt und lebt stellvertretend durch andere. Ein Beispiel dafür mag die Ausbeutung des Leidens Dritter zur Beförderung der eigenen Agenda sein. Ein anderes Beispiel ist das eines Hubschrauber-Elternteils, der die Freiheit seines Kindes dadurch aufsaugt, indem er das Kind dazu bringt, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, um stellvertretend durch es zu leben. Das Kind wird so zum Medium für die elterliche Erfahrung.

Empathischer Vampirismus ist eigensüchtig. Und so ist sadistische Empathie, die in ihrer einfachen Form bedeutet, dass „ein einfühlsamer Beobachter sich am Schmerz oder Leiden eines Anderen“ erfreut. Irgendwie wird hier die beschädigende Erfahrung eines Dritten in ein positives Gefühl für den Mitfühlenden verwandelt. Dies könnte dazu führen, dass Dritte in Schwierigkeiten geraten oder Schaden erleiden, nur um sich in ihr Leiden einfühlen zu können. Es ist möglich, dass Psychopathen in die Kate­gorie sadistischer Empathie fallen. Landläufig wurde davon ausgegangen, dass es Psychopathen an Einfühlungsvermögen mangelt. Aber Breithaupt verweis auf neue Gehirnscan-Untersuchen, wonach empathische Muster bei Psychopathen zu finden seien. Ihnen „fehlt es nicht an der Fähigkeit zur Empathie“, sondern vielmehr mangelt es an der Nutzung ­dieser vorhandenen Fähigkeit.

Es ist wahr, dass das Argument für ­sadistische Empathie am schwierigsten zu glauben ist. Die Videos von Ted ­Bundy deuten darauf hin, dass es sich bei allem, was ist, sicherlich nicht um Empathie handelt. Es wird jedoch ein wichtiger Punkt angesprochen. Die allgemeine Annahme ist, dass durch Mitfühlen das Ziel unserer Anteilnahme positiv beeinflusst wird. Es lohnt sich aber auch für den Empathiker.

Ein gefiltertes Mitgefühl bezieht sich auf die Art und Weise, dass der Mitfühlende sich als der (wirkliche oder eingebildete) „Helfer“ identifiziert. Vom Standpunkt dieses Helfers komme „die Person in Not nur als eine bedürftige Person in den Blick. Als jemand, der nur deshalb als Person erscheint, insofern sie oder er ein Handeln des Helfers motiviert“. Daher könne diese Form des Einfühlungsvermögens als indirekt, vermittelt oder gefiltert bezeichnet werden. Das ist eine Version des Helferkomplexes. Problematisch wird es, wenn das Objekt der Empathie darin scheitert, den Helfer zu bestätigen oder ihm zu danken. Mit anderen Worten, darf für den oder die Einfühlende das „Opfer“ nichts anderes als ein „Opfer“ sein?

Heißt das nun, wir sollen Einfühlungsvermögen insgesamt aufgeben? Natürlich nicht. Empathie macht uns menschlich. Das soll kein Aufruf dazu sein, ablehnend oder apathisch gegen andere Menschen und ihrem Leiden zu sein. Aber Selbsterkenntnis nötigt uns das Erkennen der dunklen Seite von Empathie sowie der trüben Gewässer ab, die vor uns liegen: Wenn bewusstes Nachdenken durch eine emotionale Bindung an das Einfühlungsvermögen als einziges Richtschnur für moralische Urteile ausgetauscht wird.