
(iz). Deutschlands größter GAU des Sicherheits- und Geheimdienstgewerbes, der Komplex um den so genannten „Nationalsozialistischen Untergrund“, hat sich bis heute noch nicht einer wirklichen Aufklärung genähert. Jüngst mutmaßte der „Spiegel“, dass ein V-Mann mit dem Decknamen „Tarif“ (mind. bis 2001) der „Architekt der NSU“ gewesen sein soll.
Über den NSU-Komplex und die Verbindungen zwischen Sicherheitsdiensten und extremen Gruppen sprachen wir mit dem Journalisten und Autor Eren Güvercin. Güvercin war Autor des NSU-Dossiers, das vor einiger Zeit vom Koordinationsrat der Muslime (KRM) veröffentlicht wurde.
Islamische Zeitung: Lieber Eren Güvercin, Sie haben das NSU-Dossiers des KRM ausgearbeitet. Wie bewerten Sie die jüngsten Erkenntnisse, wonach ein V-Mann (Deckname „Tarif“, Michael S., bis mind. 2001 lt. „SPIEGEL“) der „Architekt der NSU“ gewesen sein soll?
Eren Güvercin: Nach den zahlreichen Pannen, die es rund um den NSU-Fall bisher gab, sind diese Erkenntnisse, wonach der V-Mann „Tarif“ im NSU eine nicht gerade unwichtige Rolle gespielt haben soll, von einer ganz anderen Qualität. Die Fragezeichen werden immer größer.
Von einer wirklich umfassenden Aufklärung können wir bisher nicht sprechen, trotz dieser sehr bedenklichen Details, die langsam zum Vorschein kommen. Das eigentlich erschütternde ist aber, dass es keinen Aufschrei gibt. Wie beim NSA werden auch diese erschreckenden Details fast schon mit einem Achselzucken von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen. Hier und da wird dazu etwas geschrieben. Aber eine wirkliche Debatte findet nicht statt.
Islamische Zeitung: Handelt es sich dabei „nur“ um eine erschreckende Anhäufung von Fehlern und unglücklichen Entscheidungen, oder um ein gezieltes Vorgehen von Seilschaften innerhalb der deutschen Dienste?
Eren Güvercin: Nun ja, ich glaube die Menschen werden immer stutziger. Wer an eine erschreckende Anhäufung von Fehlern und Pannen glaubt, ist entweder naiv oder so staatsgläubig, dass eine andere Möglichkeit gar nicht in Frage kommt.
Bisher kann man nicht ansatzweise von einer Aufklärung reden. Es kommen immer mehr Ungereimtheiten heraus. Eins ist jedoch klar: Die Sicherheitsdienste kommen dabei nicht gut weg.
Islamische Zeitung: Immerhin, die Geschichte des 20. Jahrhunderts belegt eine ganze Reihe von Geheimorganisationen, deren Initiatoren die Dienste selbst waren…
Eren Güvercin: Diejenigen, die zu viele Fragen stellen, werden ja gerne als Verschwörungtheoretiker abgestempelt. Klar gibt es Leute, die hobbymäßig aus allen möglichen Dingen Verschwörungstheorien basteln. Aber die Geschichte lehrt uns, dass Geheimdienste in Zusammenhang mit terroristischen Gruppen nicht selten eine dubiose Rolle gespielt haben. „Gladio“ ist da nur ein Stichwort.
Die bisherige offizielle Theorie des NSU, wonach eine Handvoll Leute nur hinter dieser Mordserie stecken, ist meiner Meinung nach auch lediglich eine Verschwörungstheorie, nur dass sie von sämtlichen Medien aufrecht erhalten wird. Ich denke, man sollte realistisch bleiben: Erst in 10-15 Jahren wird man erfahren, was wirklich hinter dem NSU steckte. Weder Untersuchungsausschüsse noch Gerichtsverfahren werden ansatzweise die Wahrheit aufdecken.
Islamische Zeitung: Laut „SPIEGEL“ soll der Kontaktbeamte dem V-Mann auch „beim Redigieren“ seiner verbrecherischen Pamphlete geholfen haben. Lässt sich Ihrer Meinung nach das – auch bei Muslimen beliebte Narrativ – halten, dass wir es hier ursächlich nur mit einer rechten Terrorgruppe zu tun haben? Nicht nur in der Türkei wird seit Langem vom „tiefen Staat“ gesprochen…
Eren Güvercin: Man kann die ganze Angelegenheit natürlich ganz praktisch auf ein Slogan reduzieren, dass die Sicherheitsdienste „auf dem rechten Auge blind sind“. Klingt gut, greift aber dennoch zu kurz. Das Problem ist nicht, dass die Dienste auf dem linken oder rechten Auge blind sind, das Problem ist, dass es im Wesen geheimdienstlicher Strukturen liegt, auch außerhalb des Rechtes zu agieren. Dazu gehört es auch, terroristische Gruppen aufzubauen oder sie einfach walten zu lassen, weil es aus politischen und anderen Gründen gerade so gewünscht ist.
In der Türkei war es der „tiefe Staat“, der etwa Terrorgruppen wie die türkische „Hizbullah“ gegründet und unterstützt hat, weil sie gegen die PKK die Drecksarbeit erledigen sollte, für die die Polizei und das Militär nicht geeignet waren. Jahrelang glaubte man diesem Narrativ von einer kurdische-islamistischen Terrorgruppe, bis später aufgedeckt wurde, dass das Militärgeheimnis dahinter steckte.
Es wäre spannend, wenn Journalisten, die investigativ zum NSU arbeiten, sich auch die Frage stellen, was für einen Einfluss V-Leute in extremistischen Gruppen haben jenseits des rechten Spektrums. Denn V-Männer des Verfassungsschutzes spielen nicht nur in der Neonazi-Szene eine dubiose Rolle. Wenn wir uns die spektakulären Fälle „islamistischer Zellen“ in den letzten Jahren vergegenwärtigen, spielten V-Männer immer eine besondere Rolle.
Der Mentor der Sauerland-Gruppe etwa war ein gewisser Yehia Yousif, der mittlerweile in Saudi-Arabien lebt und eine Schlüsselrolle in der Radikalisierung der Mitglieder dieser Gruppe spielte. Yehia Yousif war zwischen 1995 bis 2002 im Dienste des baden-württembergischen Verfassungsschutzes. Interessant ist, dass bei einer Hausdurchsuchung in der Wohnung von Yehia Yousifs Sohn, Omar Yousif, Unterlagen für die Herstellung des Flüssigsprengstoffs TATP gefunden wurden, mit dem später die Sauerland-Gruppe auf dilettantische Weise experimentiert hatte. Seltsamerweise wurde sowohl gegen Yehia Yousif als auch seinen Sohn kein Auslieferungsantrag gestellt, nachdem sie sich 2004 nach Saudi-Arabien abgesetzt hatten.
Wieso wird in den Mainstream-Medien bisher die Rolle des Hasspredigers Yousif, der gleichzeitig auch Informant des Verfassungsschutzes war, nicht hinterfragt? Yousif hatte entscheidend zum Erstarken salafitischer Gruppen beigetragen. Gleichzeitig war er aber auch Lohnempfänger des Verfassungsschutzes. In einem weiten „Islamisten“-Prozess in München sorgte ein V-Mann für Aufsehen. Acht mutmaßliche Terrorhelfer wurden beschuldigt, mit Videos von Selbstmordattentaten in Deutschland für den Terror geworben zu haben. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, Teil der „Globalen Islamischen Medienfront“ (GIMF) zu sein.
Während des Gerichtsverfahrens kam aber heraus, dass der Anführer dieser Gruppe ein V-Mann des Verfassungsschutzes war. Die Bundesanwaltschaft hatte dies dem Gericht nicht mitgeteilt, obwohl sie davon unterrichtet war. Der V-Mann Irfan P. habe aktiv die anderen Angeklagten „angeschoben“, so die Verteidigung. Die Mitläufer mussten sich vor Gericht verantworten; Irfan P. als Anführer dagegen wurde erst gar nicht angeklagt. Der 22 Jahre alte GIMF-Führer und mutmaßliche V-Mann soll monatlich 2.500 bis 3.000 Euro bekommen haben, seine Wohnung sei vom Verfassungsschutz bezahlt worden. Laut Bundesanwalt sei P. erst nach seiner Zeit bei der Islamischen Medienfront als V-Mann aktiv gewesen, daher treffe der Vorwurf nicht zu. In welchem konkreten Zeitraum P. als V-Mann eingesetzt war, konnte der Ankläger jedoch nicht sagen. Das Gericht entschied daraufhin, dass diese Frage „momentan nicht verfahrensrelevant“ sei. So verschonte man Irfan P. davor, im Zeugenstand Rede und Antwort zu stehen
Islamische Zeitung: Lässt Sich Ihrer Meinung die logische Kette weiterdenken und annehmen, dass kleinere Gruppen in unseren sicherheitsrelevanten Behörden das mörderische Netzwerk selbst mit zu verantworten haben?
Eren Güvercin: Zumindest erscheint mir diese Möglichkeit mindestens genauso logisch, wie dass drei Personen sich jahrelang durch Deutschland bewegen, morden, und dabei nicht ins Visier der Ermittlungsbeamten geraten.
Islamische Zeitung: Lieber Eren, vielen Dank für das Gespräch.