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Die Hadsch als muslimische Vision für interreligiöse Solidarität

hadsch
Foto: zurijeta, Freepik.com

Ein Essay von Dr. Zeyneb Sayılgan über den menschheitsverbindenden Charakter der Hadsch.

(iz). Gemeinschaft ist eine chaotische Angelegenheit. Ich liebe meine muslimische Gemeinde. Dennoch habe ich manchmal den Impuls, mich in meine eigene kleine Blase zurückzuziehen und alleine zu sein. Es ist nicht einfach, miteinander auszukommen, zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten, und zu kooperieren.

Das „ICH“ – das Ego – aufzugeben und das „WIR“ aufzubauen, ist komplizierte Arbeit, anstrengend und manchmal enttäuschend. In meinen Jahren der freiwilligen Gemeindearbeit habe ich gelernt, dass es keine perfekte Gemeinschaft gibt. Vollkommenheit ist allein Gott vorbehalten.

Gemeinschaft hat mir im Laufe meines Lebens viele Dinge bedeutet: mein Körper und mein ganzes Selbst ist eine Mikro-Gemeinschaft, meine Familie, meine Nachbarschaft, mein Arbeitsplatz, meine muslimische und meine interreligiöse Gemeinde und die Schöpfung – dieser heilige Planet als Ganzes.

Sie alle sind meine Gemeinschaft und ich versuche, gesunde Verbindungen zu jedem dieser Kreise aufrechtzuerhalten. Während die muslimische Pilgerzeit – und Reisezeit des Sommers – vor der Tür steht, denke ich darüber nach, was es bedeutet, in Gemeinschaft zu sein, und komme am heiligen Schrein in Mekka an – der Kaaba. Mit bis zu drei Millionen Menschen pro Jahr ist die Hadsch nach wie vor die größte religiöse Versammlung der Menschheit.

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Der muslimischen Tradition zufolge errichtete der Prophet Abraham in diesem alten Land zusammen mit seinem Sohn Ismael das Fundament des Monotheismus. Muslimische Gelehrte vertraten sogar die Ansicht, dass Engel das erste Haus Gottes für die Ankunft der Menschen vorbereitet hätten oder dass der Prophet Adam – der Urvater der gesamten Menschheit – dies getan habe.

Wenn sich heute weltweit zwei Milliarden Muslime in ihrem fünfmal täglichen Gebet der Kaaba als gemeinsamem Mittelpunkt zuwenden, werden sie an ihre heilige Bindung zur Menschheitsfamilie als Ganzes und an ihre besondere Geschwisterbeziehung zu den abrahamitischen Religionen erinnert. Damit bekräftigen sie ihre Verpflichtung, ein Leben zu führen, das mit Gottes Vision und Rechtleitung für die Menschheit im Einklang steht.       

Wie Muslime bezeugen, ist die Wallfahrt nach Mekka trotz aller modernen Bequemlichkeiten immer noch die körperlich und emotional anstrengendste Herausforderung. Sich mit Millionen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten auf engstem Raum zurechtzufinden ist in der Tat kein leichtes Unterfangen. Doch trotz aller Widrigkeiten ist es möglich, gemeinsam voranzukommen. Welche Charaktertugenden sind dann von jedem Menschen erforderlich, damit dies in Harmonie und Frieden gelingen kann?

Ich greife auf einige der zeitlosen Tugenden zurück, um die überwältigende Masse von Menschen zu navigieren. Diese Charaktereigenschaften haben den Test der Zeit bestanden und sind in der Gemeinschaft von universellem Wert: Liebe, Barmherzigkeit, Mitgefühl, Respekt, Selbstlosigkeit, Aufopferungsbereitschaft, Güte, Sanftmut, Geduld, Vergebung, Demut, Neugier, Aufgeschlossenheit, Einfachheit, Genügsamkeit, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität.

Trotz aller Hürden, die das Leben in Gemeinschaft mit sich bringt, kann man sich ihrer Schönheit nicht entziehen. Es sind immer noch diese menschlichen Beziehungen, in denen unser Bestes – und leider auch unser Schlechtes – zum Vorschein kommen. Charaktertugenden werden nicht im leeren Raum kultiviert, sondern durch die Pflege sozialer Verbindungen.

Wie kann ich Liebe, Barmherzigkeit, Geduld, Vergebung, Demut und Neugier zeigen, wenn ich mich nicht auf eine menschliche Begegnung einlasse? Dabei vertiefe ich meine eigene Selbsterkenntnis und wachse in meiner eigenen Menschlichkeit.   

Gott – der Gastgeber des Hadsch – heißt uns alle willkommen: die Fehlbaren, die Schwachen, die Bedürftigen, die Unvollkommenen. Mit unseren Mängeln werden wir von Gottes heiliger und barmherziger Gegenwart umarmt. Gott versichert uns, dass wir beides sein können: ein perfektes Meisterwerk und ein unvollständiges Kunststück.

Wenn Gott uns mit unserer angeborenen Schwäche und unseren Fehlern akzeptiert, können wir uns dann vielleicht gegenseitig annehmen und mehr Genügsamkeit füreinander zeigen? Hier auf der Pilgerfahrt – einer Probe für den Tag des Jüngsten Gerichts, an dem sich alle menschlichen Seelen versammeln werden – spielen Alter, Geschlecht, Reichtum, Titel und Ränge keine Rolle. Hier bin ich, hier bin ich, oh mein Herr – verkünden die Pilger unaufhörlich. Ich habe nichts anzubieten, aber hier bin ich.

Und Gott sagt gemäß dem Koran (Vers 15), O ihr Menschen! Ihr seid es, die auf Gott angewiesen sind, während Gott der Unbedürftige, der Lobenswerte ist. Hier sind wir alle gleich wie eine prophetische Überlieferung mitteilt: Gewiss, Gott schaut nicht auf eure Körper und auch nicht auf euer Aussehen; vielmehr schaut Er in eure Herzen und auf eure Taten.

Wie bei vielen religiösen Ritualen besteht immer die Gefahr, dass sie leer und bedeutungslos werden können. Die Hadsch wurde nicht ohne Grund zu einer der wichtigsten Säulen des Islam ernannt. Sie bietet endlose Weisheiten an und hat weiterhin einen tiefgreifenden Einfluss auf die Herzen der Menschen.

Malcolm X bewegender Brief von der Hadsch, ist ein Beweis dafür, wie dieses religiöse Ritual die Einstellung eines Menschen radikal verändern kann. Wenn man sich aufrichtig auf diese spirituelle Reise begibt, kann man einer tiefen Veränderung begegnen. Die Hadsch ist ein außergewöhnliches, verkörpertes Zeugnis, dass wir im Grunde eine Menschheitsfamilie sind. Jeder einzelne Mensch ist heilig.

Jedem Einzelnen wurde von Gott Ehre und Würde verliehen, wie der Koran (Vers 70) betont, Wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt, sie über Land und Meer getragen und mit guten Dingen versorgt; und sie wurden über viele von denen erhoben, die Wir erschaffen haben. Wenn Gott den Menschen mit Würde ausgestattet hat, wie können wir uns dann gegenseitig erniedrigen und ausschließen? Wie können wir uns unserem Schöpfer würdig erweisen und diesen Gemeinschaftsvertrag ehren?

Migration, Bewegung und Mobilität sind Teil unserer spirituellen DNA. Niemand wird auf dieser Erde ewig verweilen. „Sei auf dieser Welt wie ein Fremder oder ein Reisender“, betont eine prophetische Überlieferung. Dies deutet auf einen paradoxen Lebenszustand hin: Überall in der Fremde zu Hause zu sein, alle mit Achtung zu behandeln, aber nirgendwo so wirklich vollkommen dazuzugehören.

Die Menschheit ist daher aufgerufen, gesunde Bindungen zueinander zu pflegen, diesen Planeten mit Respekt und Fürsorge zu behandeln, sich auf das Wesentliche auf dieser Lebensreise zu konzentrieren und ein bleibendes spirituelles oder moralisches Erbe zu hinterlassen.

Der Theologe Bediüzzaman Said Nursi ermutigt daher seine Mitmenschen, dem lebendigen Vorbild der Schöpfung – dem Ökosystem der Welt – nachzueifern: Wir sollten offen einander zugehen und uns kennenlernen (tearüf), wir müssen uns zusammenschliessen (teanuk), einander unterstützen (tesanüd), auf die Bedürfnisse des anderen eingehen (tecavüb) und einander helfen (teavün). In unserem Kern sind wir soziale Wesen, die eng miteinander verbunden und verwoben sind.

Wenn wir in Solidarität auf die Kaaba blicken, erneuern wir unser Versprechen, diesen heiligen Gemeinschaftsvertrag einzuhalten: Wir streben danach, rassische, ethnische, nationale, politische und soziale Grenzen und konstruierte Label zu überwinden. Gemeinsam versuchen wir die spirituellen Krankheiten unserer Zeit zu eliminieren. Egoismus, Rassismus, Sexismus, Materialismus und alle Arten von Ungerechtigkeiten sind destruktiv und haben keinen Platz in unserer Welt.

In globaler Einheit setzen wir uns für die Erhaltung dieses heiligen Planeten ein. Wenn wir uns gegenseitig auf dieser gemeinsamen Lebensreise unterstützen, werden wir nicht nur gemeinschaftlich wachsen und heranreifen, sondern auch unser endgültiges Ziel in Frieden und Sicherheit erreichen.

Dr. Zeyneb Sayılgan ist Islamwissenschaftlerin am Institut für Islamische, Christliche und Jüdische Studien in Baltimore. Sie ist in Mainz als Tochter von kurdisch-muslimischen Migranten aus der Türkei geboren und aufgewachsen und lebt seit dem Jahr 2006 in den Vereinigten Staaten. Zeyneb’s Forschung setzt sich mit dem theologischen Gedankengut des muslimischen Gelehrten Bediüzzaman Said Nursi (1876-1960) auseinander. Hierzu moderiert sie den Podcast “Begegnung mit dem Islam: Weisheiten aus der Risale-i Nur.” Ihre Arbeit wird in wissenschaftlichen und populären Fachzeitschriften wie DIALOG, Religion News Service, Covenant, U.S.Catholic und deutschen Medien wie MIGAZIN und Islamische Zeitungveröffentlicht.