"IZ-Begegnung" mit dem deutschen Muslim, Autor und Dozenten Dr. Raschid Bockemühl über die Welt nach dem 11. September

Ausgabe 202

(iz). Von New York, über London bis zum Attentäter von Toulouse: Die Ausprägungen des militanten Extremismus unter Muslimen sind kein abgeschlossenes Kapitel. Sie stellen nicht nur, soweit es die politische Ide­ologisierung des Islam betrifft, eine Zeitenwende dar. Sie haben auch – von der so genannten „Integration“, über den Moscheebau bis zur Islamkritik – in Deutschland bleibende Spuren hinterlassen. Hierzu sprachen wir dem deutschen Muslim Dr. Raschid Bockemühl.

Dr. Bockemühl, Dortmund, war lange Zeit in der Erwachsenenbildung, im Journalismus und der kommunalen Wirtschaftsförderung tätig. Nach gründlichen islamischen Studien und vielen Aufenthalten in der islamischen Welt nahm er 1993 den Islam an. Heute arbeitet er als Autor und Dozent zu kulturellen, politischen und rechtlichen Aspekten des Islam und der islamischen Welt. Außerdem ist er in der interreligiösen Kooperation engagiert und Mitglied der Deutschen Muslim-Liga Bonn.

Islamische Zeitung: Wie haben Sie den 11. September erlebt? Was war Ihr erster Gedanke?

Dr. Raschid Bockemühl: Als am frühen Nachmittag des 11. September 2001 klar wurde, dass es sich nicht um einen Unglücksfall handelte, sondern um ein politisches Attentat, war mein erster Gedanke: So schrecklich es ist, aber es werden wahrscheinlich muslimische Täter gewesen sein – zumindest solche, die sich als Muslime ausgaben und von der Welt auch als solche erkannt werden wollten. Nachdem dies klar wurde, bedrückte mich ein zweiter Gedanke: Alle Muslime dieser Welt und ihre Religion werden wahrscheinlich für diese Verbre­chen ihrer größenwahnsinnigen „Glaubensbrüder“ zur Mitverantwortung gezo­gen werden. Dieser Generalverdacht belastet die Muslime und das Verhältnis der Nichtmuslime zu ihnen bis heute. Optimisten sagen, er habe inzwischen etwas nachgelassen.

Islamische Zeitung: Hat sich seit den Anschlägen etwas für sie geändert, und sind sie vor den Anschlägen anders behandelt worden?

Dr. Raschid Bockemühl: Acht Jahre vor dem 11. September war ich zum islamischen Glauben übergetreten. Seither verspüre ich eine gewisse – ­manchmal offene, meist latente – Zurückhaltung vieler Menschen mir gegenüber. Sie fragen mich, warum ich mich ausgerechnet dieser als radikal verschrieenen Religion angeschlossen habe. Nach dem 11. September wurden mir diese Fragen mit um so größerem Nachdruck gestellt. Ich weiß aber auch, dass die ruhige, sachliche Erläuterung dessen, was Islam und Muslim-Sein allgemein und für mich persön­lich bedeuten, jetzt nur noch dringender geworden ist.

Islamische Zeitung: Wie stark hat sich ihrer Meinung nach der 11. September wirklich auf die Welt ausgewirkt, oder gab es doch keine so große Veränderung?

Dr. Raschid Bockemühl: Die extreme, letztlich aber – trotz ihrer knapp 3.000 Todesopfer – eher symbolische Monstrosität der Anschläge auf World Trade Center und Pentagon hat eine wirklich extreme, nicht nur symbolische Folgewirkung ausgelöst: den militärischen Rachefeldzug der USA in Gestalt des „Kriegs gegen den Terror“. Dies vor allem deshalb, weil der „War on Terror“ über den eigentlichen „Kriegsgegner“ Al-Qaida hinaus zu einem regulären Krieg in Afghanistan und später im Irak ausgewei­tet wurde. Für alle Islamkritiker war der 11. September ein unverhofftes Geschenk, denn er schien eindrucksvoll all das zu bestätigen, wovor sie schon ­immer gewarnt hatten.

Der 11. September 2001 hat, zumindest von der politischen Rhetorik her, eine neue Lage geschaffen. Es wurde eine neue Parole ausgegeben: An die Stelle der früheren, vom Ost-West-Gegensatz geprägten Weltordnung trat nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eine neue Ordnung. Die „Rechtfertigung“ für die neue Stoßrichtung zog der Norden aus der (auf den ersten Blick nicht ganz falschen) Feststellung, der „Süden“ verfüge über ein bedrohliches terroristisches ­Potenzial, gegen das es sich zu verteidigen gelte. Im Ganze betrachtet haben weder der 11. September noch seine ­unmittelbaren tagespolitischen Folgen eine wirklich tiefgreifende oder gar dauerhafte Veränderung der Welt herbeigeführt. Alle für die Menschheit lebenswichtigen Probleme – Frieden, Klimawandel, Ernährung, Verteilungsgerechtigkeit usw. – sind nach wie vor ungelöst.

Islamische Zeitung: Nach dem 11. September wurde das so genannte Religionsprivileg aufgehoben. Was ­halten sie davon?

Dr. Raschid Bockemühl: Nach dem Vereinsgesetz konnten Vereine, Gesellschaften und Körperschaften überwacht und verboten werden, wenn sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgten. Nur Religionsgesellschaften waren davon ausge­nommen. Als Reaktion auf den 11. September wurde ihnen dieses Privileg genommen. Man wollte damit islamische, besser „islamistische“ Organisationen treffen, musste das Verbot aber aus Gründen der Gleichbehandlung auf alle Organisationen, zum Beispiel auch die Kirchen, ausdehnen.

Diese Gesetzesverschärfung ist von ihren Kritikern, darunter Muslimen, von Anfang an als undurchdachte Überreak­tion auf den 11. September und zugleich als unwirksame Maßnahme gegen etwa­igen Terrorismus gewertet worden. Die damaligen Sicherheitsgesetze, darunter die Abschaffung des Religionsprivilegs, und ihre Anwendung in der Praxis ­haben sich – über den zahlenmäßig verschwindend kleinen Kreis der wirklichen Terroristen und Terror-Sympathisanten hinaus – auf alle Muslime und ihre Einrichtungen ausgewirkt. Denn potenziell verdächtig erschienen sie alle.

Insofern hat der unermüdlich wiederholte Terrorismusvorwurf seine ihm zugedachte politisch-psychologische Funktion voll erfüllt: Er konnte systematisch als Instrument des Furcht-Erregens eingesetzt werden und dann als ­Legitimation für neue Sicherheitsmaßnahmen herhal­ten. Durch die von ihm betriebene Eska­lation der innenpolitischen Regelungswut hat der Staat selbst – im Sinne einer selbst erfüllenden Prophezeiung – zur permanenten Reproduktion des neuen Feindbildes Islam beigetragen.

Islamische Zeitung: Wie könnte man Ihrer Meinung nach die Muslime in Deutschland besser integrieren? Dr. Raschid Bockemühl: Nach herrschender Lehre wird unter Integration die Eingliederung der Muslime in das deutsche politische Gemeinwesen und die deutsche Gesellschaft, aber ohne Zwang zur Aufgabe ihrer kulturell-religiösen Identität, verstanden. (Über ­dieses zuletzt genannte Zugeständnis sind sich die meisten Verfassungsrechtler einig.) In diesem Sinne sind an die Muslime nur zwei Forderungen zu stellen, die sie in jedem Fall erfüllen müssen: Die ­deutsche Sprache zu lernen (soweit sie einen ­Migrationshintergrund besitzen) und sich an die deutsche Rechtsordnung zu halten. Alles Weitere ist eine Frage des Aushandelns auf Augenhöhe zwischen den beteiligten Instanzen, Gruppen und Personen.

Sowohl der Staat und die Gesellschaft, als auch die Muslime selbst müssen gemeinsam an einer Intensivierung und Vertiefung der Integration arbeiten. Dem Staat obliegt die entscheidende Aufgabe der öffentlichen Anerkennung der Muslime beziehungsweise des Islam als gleichberechtigter Glaubensgemeinschaft und ihr Schutz vor Angriffen und Diskri­minierung. Der Staat hat darüber hinaus die für die Muslime und den inneren Frieden im Lande besonders wichtige Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass Islam und Muslime nicht, wie bisher, in erster Line als Sicherheitsproblem, also als Bedrohung für Staat und Gesellschaft angesehen werden.

An der Entstehung dieser einseitigen Perspektive trägt der Staat selbst eine erhebliche Mitschuld, weil seine Antwort auf die Situation nach dem 11. September vor allem in der Verabschiedung ­ganzer Pakete von Sicherheitsgesetzen bestanden hat. Aufgabe des Staates muss es vielmehr sein, in konstruktiver, koo­pe­rativer Absicht auf die Muslime zuzugehen. Hierzu hat er inzwischen erste Schritte unternommen – etwa 2006 durch die Einberufung einer ständigen Deutschen Islamkonferenz (DIK) durch den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble.

Sie hat zwar noch kaum ­nennenswerte praktische Ergebnisse erzielt, ist aber als Gesprächsforum zwischen Staat und Mus­limen sinnvoll. Die DIK kann langfristig zur besseren Information über den Islam und die Muslime, zum Abbau von Vorurteilen und so zur Entspannung des angespannten Verhältnisses zwischen Staat und Muslimen beitragen. Weitere vergleichbare Initiativen müssen allerdings dringend folgen. Die staatliche ­Seite müsste dies insbesondere durch konkrete gesetzgeberische und administrative Schritte zugunsten der Muslime unterstützen.

Islamische Zeitung: Gab es seit dem 11. September Fortschritte oder Rückschritte in Sachen Integration?

Dr. Raschid Bockemühl: Ich glaube nicht, dass man Entwicklung und Fortgang der Integration unmittelbar mit dem 11. September 2001 in Verbindung bringen sollte. Natürlich hatte dieses Groß­ereignis Auswirkungen auf viele Politik­bereiche gehabt. Und natürlich hat es auch den schon vorhandenen islamkriti­schen und islamfeindlichen Bestrebungen Auftrieb gegeben. Islamskepsis, psychologisch-emotionale Abwehr des ­Islam und Misstrauen gegenüber den Muslimen waren in Deutschland noch nie so lebendig wie in der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit. Aber es ist nicht erwiesen, dass diese ablehnenden Einstellungen wirklich oder auch nur in ­erster Linie auf die Terroranschläge von „9/11“ zurückzuführen sind. Die verbrei­tete islamkritische Stimmung reicht weiter, besser gesagt tiefer, als nur an die tagespolitische Oberfläche. Gleichzeitig hat sich die Integration der Muslime in die deutsche Gesellschaft vielfach durchaus positiv weiter entwickelt.

Dabei waren es vor allem die Muslime selbst, die ihre eigene Integration in die Hand genommen haben. An erster Stelle ist dabei ihre wirtschaftliche und soziale Integration zu nennen. Der Umsatz der von Muslimen gegründeten und geführten Unternehmen in Deutschland hat schon vor Jahren die Marke von 50 Milliarden Euro pro Jahr überschritten, die Zahl der erfolgreichen muslimischen Existenzgründer steigt stetig an. Der Anteil der Muslime – hier muss man genauer sagen: vor allem der Musliminnen -, die weiterführende Schulen und Hochschulen besuchen und erfolgreich absolvieren, steigt langsam, aber regelmäßig an. Die Arbeitslosigkeit ist immer noch höher als bei nichtmuslimischen deutschen Arbeitnehmern, hat aber schon zu sinken begonnen. Es gehört also zu den Widersprüchen unserer Gegenwart, dass sich die Mehrzahl der Muslime in Deutschland durch anti-islamische Bestrebungen und Aktivitäten nicht in ihrem Integrationswillen beirren lässt.

Islamische Zeitung: Wie bewerten Sie den Islamunterricht an allgemeinbildenden Schulen?

Dr. Raschid Bockemühl: Selbstverständlich wäre die allgemeine verpflichtende Einführung des Islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen aller Bundesländer ein gewaltiger Fortschritt im Sinne der Integration. Bisher hat sich nur Nordrhein-Westfalen verbindlich zur schrittweisen Einführung dieses Fachs ab Schuljahr 2012/13 ­entschlossen. Es fehlt noch an entsprechend pädagogisch ausgebildeten Lehrkräften, für deren Ausbildung überhaupt erst Lehrstüh­le an Universitäten geschaffen und Hochschullehrer berufen werden müssen, wie es bisher erst an vier Orten (Münster, Osnabrück, Erlangen und Tübingen) geschehen ist. Ebenso fehlt es weithin noch an Unterrichtsmaterialien, die den fachlichen, didaktischen und methodischen Ansprüchen genügen. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass der Trend zur Einführung des Islamischen Religionsunterrichts anhalten wird.

Dieser Unterricht muss bekenntnisorientiert sein, wie dies auch für den christlichen Religionsunterricht gilt und in Art. 7 Grundgesetz garantiert wird. Die Schulen müssen sich also von der vielfach praktizierten „Islamkunde“ trennen, die oft sogar nur eine bloße „Türkeikunde“ war.

Islamische Zeitung: Halten Sie den „Krieg gegen den Terror“, den die Amerikaner nach den Anschlägen erklärt hatten, für gerechtfertigt?

Dr. Raschid Bockemühl: Die USA wurden durch die Anschläge vom 11. September auf ihrem Territorium gezielt angegriffen – allerdings nicht mit klassischen militärischen, sondern mit terroristischen Mitteln. Sie besaßen also ein Recht auf Selbstverteidigung, gegebe­nenfalls auch auf eine dem Angriff entsprechende Antwort. Diese Antwort ­hätte etwa in einem Bombardement der Trainingscamps von al-Qaida in Afghanistan bestehen können und wäre politisch verständlich gewesen.

Auf den Terroranschlag haben die USA jedoch mit einem gewaltigen Potenzial an herkömmlichen Mitteln der Kriegsführung (bis hin zu ­Bodentruppen) reagiert und sich so nicht nur an den Terroristen „gerächt“, sondern auch den ganzen, damals von den Taliban beherrschten Staat Afghanistan in den Krieg hineingezogen, weil er den Terroristen Unterschlupf gewährt hatte.

Sie haben also einen so genannten „asymmetrischen“ Krieg (einer klassischen Armee gegen eine Gruppe von Einzelkämpfern) und gleichzeitig einen herkömmlichen Krieg gegen einen ganzen Staat geführt. Diesen Krieg haben sie durch Vertreibung der Taliban gewonnen, aber bei dem asymmetrischen Krieg gegen die Terroristen stand, wie bei ­allen asymmetrischen Kriegen, im Voraus fest, dass er nicht gewonnen werden konnte. Schon die aus propagandistischen Gründen gewählte Bezeichnung „Krieg gegen den Terror“ drückt die Asymmetrie aus. Es sind im Wesentlichen zwei ­Gründe, warum sich die USA immer wieder mili­tärisch im Nahen und Mittleren Osten engagieren. Einer davon ist: Für ihre Stellung als ­(einzige) Weltmacht ist diese Region von außerordentlicher geo-strategischer Bedeutung, insbesondere wegen ihrer Energieressourcen, die für den weltweit größten Energieverbraucher USA lebenswichtig sind.

Islamische Zeitung: Sollte NATO längerfristig in Afghanistan bleiben oder wäre es besser, wenn man Afgha­nistan verlassen würde, damit Afghanistan die Probleme selbst in den Griff bekommt?

Dr. Raschid Bockemühl: Die NATO (einschließlich ihres deutschen Truppen­anteils!) sollte sich so bald wie möglich aus Afghanistan zurückziehen, wie es, zumindest mittelfristig, auch schon angekündigt wurde. Doch keine positive oder negative Antwort auf diese Frage wird dem komplizierten Problem wirklich gerecht. Dieser asymmetrische Krieg kann niemals gewonnen werden, auch wenn das Mandat für die NATO-Truppen immer weiter verlängert würde.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Dr. Bockemühl, vielen Dank für das Interview.