
IZ-Reiseblog: Sind Touristen die letzten Romantiker? Sie suchen die „reine“ Schönheit, die nicht von der industriellen und urbanen Moderne entstellt wurde.
(iz). Viele Touristen sehnen sich nach Orten, die als „unberührt“ gelten. Den Tourismus kann man als eine Form der Flucht in eine idealisierte Welt interpretieren. Die realen, komplexen sozialen, politischen oder ökologischen Probleme vieler touristischer Orte bleiben oft unberücksichtigt, was zu einer Art oberflächlichem Blickwinkel führt, der die tiefere Realität ausblendet.
Walburga Hülk stellt in einer neuen Biografie Victor Hugo, einen Jahrhundertmenschen, vor. Der Schriftsteller war im 19. Jahrhundert viel unterwegs und reiste aus verschiedenen Gründen, sei es, um seine Exilaufenthalte zu erreichen, oder aus künstlerischem Interesse. In seinem Werk spricht Hugo oft von Reisen als eine Art der Erlangung von Wissen und Erleuchtung.
Nach seiner politischen Verurteilung und dem Exil 1851, er widersetzte sich der französischen Regierung, verbrachte er viele Jahre in Jersey und Guernsey, kleinen Inseln im Ärmelkanal. Diese Reisen und der Aufenthalt im Exil hatten einen prägenden Einfluss auf sein Leben und seine Werke. Hier reflektierte er über Religion, Natur und Freiheit und entwickelte viele seiner Ideen weiter.
In seinem berühmten Roman „Les Misérables“ (Die Elenden) wird das Schicksal des Protagonisten Jean Valjean, von einer physisch-moralischen Flucht hin zu einer spirituellen Erlösung, dargestellt. Hier wird das Reisen nicht nur als Bewegung durch geographische Räume verstanden, sondern wird zu einem symbolischen Weg von der Sünde zur Befreiung. Die Revolutionäre erleben auf ihrem Weg eine soziale und politische Metamorphose.
Gerechtigkeit ist das Motto dieses monumentalen und wirkmächtigen Romans, der bis heute eine unvergleichliche Strahlkraft ausübt. „Es geschah“, beschreibt Walburga Hülk „im Rahmen der Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts, etwas Staunenswertes: Les Miserables ging viral“. Seine Schilderungen über das Entstehen von monströser Armut und extremen Reichtum schlug wie eine Bombe ein und bewegte sein Publikum in der ganzen Welt.
Geschildert wird die französische Geschichte von der Zeit Napoleons bis zu der des Bürgerkönigs Louis Philippe. Im Mittelpunkt steht der ehemalige Sträfling Jean Valjean. Nach 19 Jahren Haft, die er für den Diebstahl eines Stücks Brot durch Einbruch, sowie für vier Fluchtversuche erhalten hat, ist er ein von der Gesellschaft gebrandmarkter und innerlich verhärteter Mensch.
Durch seine Begegnung mit dem Bischof von Digne, einem gutherzigen Seelsorger, der ihn Fürsorge erfahren lässt, bekehrt er sich und wird zu einem moralisch guten Menschen. Unter dem Namen M. Madeleine erarbeitet sich Valjean Bildung, Reichtum und Ansehen.
In Victor Hugos berühmtem Werk kommt der Sozialismus zwar nicht explizit im Sinne einer politischen Ideologie vor, aber Hugo thematisiert eindrucksvoll die sozialen Missstände und die Ungleichheit, die das Leben der Armen und Unterdrückten prägen.
Im Gegensatz zu dem weit verbreiteten Materialismus bekannte Hugo sich ausdrücklich zu dem Glauben an eine höhere Instanz. Die metaphysische Haltung des Schriftstellers beschreibt Walburga Hülk wie folgt: „Kritik an allen herrschenden Religionen wegen Machtmissbrauch der Kleriker, doch Toleranz gegenüber allen Religionen oder vielmehr die Überzeugung, sie alle zerstören zu müssen, um Gott im Menschen neu zu schaffen.“
Es gibt zahlreiche moderne Autoren und Philosophen, die sich auf Victor Hugos Roman beziehen oder dessen Ideen in ihren eigenen Werken aufgreifen. Der Schriftsteller hat bis heute einen großen Einfluss auf die Literatur und Philosophie. Der französische Existentialist Jean-Paul Sartre war von den sozialen und ethischen Fragen in „Les Misérables“ beeinflusst.
In seinem Werk betont der Philosoph die Verantwortung des Einzelnen, seine Freiheit zu nutzen, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Hugo schildert ähnliche moralische Dilemmata, wie sie in der Existenzphilosophie vorkommen: Wie kann der Einzelne im Angesicht von Ungerechtigkeit und Unterdrückung richtig handeln?
Der französische Sozialtheoretiker Michel Foucault beschäftigte sich mit den Machtstrukturen, Strafsystemen und sozialen Institutionen, die in „Les Misérables“ eine große Rolle spielen. Insbesondere die Darstellung des Justizsystems ist im Kontext des Werkes Überwachen und Strafen (1975) eine Fallstudie für die kritische Betrachtung moderner Ordnungen. Foucault stellt damit die Antithese zu der romantischen Sehnsucht des Tourismus auf: Die Wahrheit einer Gesellschaft zeigt sich aus seiner Sicht an ihren Rändern.
Foto: Leonard Cotte, Unsplash
Hugos Modernität zeigt sich nicht zuletzt in seinem Umgang mit dem „Mythos Paris“. Touristische Sehenswürdigkeiten stellt der Roman nicht vor. 1867 beschreibt er eine politische Vision: „Diese Nation wird Paris als Hauptstadt haben, doch wird sie nicht mehr Frankreich heißen, ihr Name wird Europa sein.“
Notre-Dame ist in den „Miserables“ kein geistiges Zentrum wie im Mittelalter. Es fehlt in der Moderne, in der Zeit politische rund technologischer Revolutionen, an Orientierungspunkten. Das Paris, das der Roman meisterhaft beschreibt, ist dezentriert, halt- und formlos, es wuchert in den Randbezirken der Banlieus, driftet in die Peripherie. Hugo beschränkt sich bewusst nicht nur auf die äußerlichen Schönheiten einer Stadt. Unter den prächtigen Gebäuden und Straßen versteckt sich ein unsichtbares Labyrinth. Die Kanalisation der Großstadt wird Teil seiner Geschichte.
Millionen Touristen besuchen jedes Jahr die französische Metropole, bewundern den Eiffelturm, entdecken die Museen und flanieren auf den Prachtstraßen. Das Leben in den Vorstädten ist für sie eher eine unbekannte Welt. Die Probleme in Stadtvierteln wie Montfermeil sind nicht die gleichen wie 1862, aber wie heftigen Tumulte der letzten Jahre zeigen, nicht weniger beunruhigend.
Das Paris der „Elenden“ stellt Ladj Lys in einem faszinierenden Film vor. 2018 feiert Frankreich den Gewinn der Fußballweltmeister und alle Franzosen, auch die mit Migrationshintergrund, sind bei den Feierlichkeiten am Eiffelturm vereint. Dann führt die Kamera uns langsam in den Alltag rund um die Wohnmaschinen der Vorstädte, geprägt von Perspektivlosigkeit und Armut.
Es tauchen Charaktere auf, Jugendliche, Religiöse, Polizisten und Kriminelle, die wie Romanfiguren wirken. Staatliche Programme versuchen, ein fragiles Gleichgewicht herzustellen. Es fehlt an Bildung und Kultur. Im Abspann wird Victor Hugo zitiert: „Meine Freunde, behaltet dies im Gedächtnis. Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt nur schlechte Ackerbauern.“