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Warum Akademiker den Islam missverstehen

Ausgabe 355

Sprache Urteilskraft islam
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Existiert der Islam als eine unveränderliche Realität? Oder ist er das, was Muslime gerade sagen? Kann Islam überhaupt ein Objekt in der Welt sein?

(Renovation Magazine). Lassen Sie uns einige bedeutende Beiträge in der akademischen Literatur zu seiner Konzeptualisierung untersuchen: „The Venture of Islam“ von Marshall Hodgson, eine klassische Weltgeschichte, die sich so ausführlich mit der Frage „Was ist der Islam?“ befasst. „What Is Islam? The Importance of Being Islamic“ von Shahab Ahmed, die bisher gründlichste Abhandlung zu diesem Thema. Das kürzlich erschienene „Lived Islam: Colloquial Religion in a Cosmopolitan Tradition von A. Kevin Reinhart; und der äußerst einflussreiche Artikel „The Idea of an Anthropology of Islam“ von Talal Asad.

Keines dieser Bücher beschreibt das Thema auf eine Weise, die die meisten Muslime im Laufe der Geschichte akzeptieren würden. Doch wir sollten verstehen, dass sich diese Werke in Bezug auf ihre inneren Widersprüche und Inkohärenz erheblich voneinander unterscheiden. Sie repräsentieren mehrere Ansätze, die in der modernen Islamwissenschaft weiterhin verbreitet sind.

Marshall Hodgsons Abgrenzung von „Islam“ und „Islamdom“ und die angemessenen Attribute zwischen der Religion und ihrer entsprechenden Zivilisation stellen einen der einflussreichsten Versuche dar, das Konzept „Islam“ in der Geschichte der Islamwissenschaft zu präzisieren. Der Begriff „Islamisiert“ (oft „Islamicate) im Gegensatz zu „Islamisch“ hat sich in mehreren wissenschaftlichen Bereichen, die mit dieser Welt zu tun haben, etabliert. Er spricht davon wie folgt:

„Es gab … eine Kultur, die sich auf eine schriftbasierte Tradition stützt, die historisch für die Gesellschaft des Islam charakteristisch war. Und die natürlich sowohl von Muslimen als auch von Nichtmuslimen geteilt wurde, die alle voll und ganz an der Gesellschaft des Islam teilhaben. Daher habe ich das Adjektiv ‘Islamicate’ verwendet. Ich beschränke den Begriff ‘Islam’ auf die Religion der Muslime und verwende diesen Begriff nicht für das weitaus allgemeinere Phänomen, die Gesellschaft des Islam und ihre islamischen kulturellen Traditionen.“

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Hodgson behauptet, dass in Bezug auf den Islam alles möglich ist – aber auch, dass nicht alles möglich ist. Man muss die Behauptung eines „idealen“ Islam vermeiden. Aber diese Zivilisation hat auch eine unübertroffene Einheit aufgrund ihrer „unbändigen transzendenten Ideale“. Der Islam als historische Realität hat eine verschwindende Einheit – aber auch eine entscheidende Kontinuität. Diese Widersprüche sind real.

Wenn wir uns anderen Versuchen zuwenden, die Abgrenzungen rund um den Islam zu steuern, wird dieses „ideale“ oder „metaphysische“ Ding, das „Grenzen auferlegt“ – mit dem Hodgson zu kämpfen bereit ist und dessen Vorhandensein er nicht auslöschen kann – auf eine Weise theoretisiert, die es entstellt, bis es zu etwas völlig anderem wird.

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Widersprüche

Ein Beispiel für diese Art der Theoriebildung ist Shahab Ahmeds „What Is Islam?“. Dies ist eine umfassende Chronik des kulturellen, intellektuellen, rechtlichen und sozialen Lebens im Islam, das sich auf das Gebiet konzentriert, das er als Balkan-Bengal-Komplex bezeichnet (von Osteuropa bis Südasien, aber ohne die arabische Welt oder Afrika). Ahmed verwendet dies, um den Islam in einem Rahmen zu theoretisieren, der auf dem beruht, was er als „inhärenten Widerspruch“ bezeichnet. In einer repräsentativen Passage sagt er:

„Der Islam als muslimische Auseinandersetzung mit Offenbarung-als-vor-Text, Text und Kontext enthält bereits in seiner Struktur und Dimensionalität die Prämisse und das Versprechen mehrerer räumlich differenzierter Wahrheiten. Diese Widersprüche sind nicht nur äußerlich bedingt, sondern strukturell inhärent. Grundlegende und völlige Widersprüche von Wahrheit und Bedeutung sind daher strukturell, logisch und objektiv dem Islam innewohnend und ihm eigen. Der Widerspruch erweist sich somit nicht nur als inhärent islamisch, sondern als kohärent islamisch: Der Widerspruch ist der räumlich-strukturellen Dynamik der Offenbarung an Muhammad inhärent und mit ihr kohärent.“

Hier gibt es unüberwindbare logische Probleme, die durch keine empirischen Beispiele aus der muslimischen Geschichte überwunden werden können. Zu behaupten, dass dieser Gegensatz als solcher einer „Struktur“ von Praktiken oder Ideen innewohnt, bedeutet genau genommen, einen Freifahrtschein für alles zu erteilen, in dem es überhaupt keine Anordnung geben kann.

In einer seltsamen Umkehrung nimmt Ahmed die Lösung des analytischen Problems des Gegensätzlichen und verwandelt sie in genau die Bedingung, durch die der völlige Gegensatz entsteht. Für ihn ist die Erzeugung von „(islamischer) Wahrheit und Bedeutung in zwei räumlich getrennten Hauptverläufen, nämlich Hierarchie und Innerlichkeit/Äußerlichkeit“, das, was es Muslimen ermöglicht, „den Islam in Form einer widersprüchlichen Bedeutungsgebung zu konzipieren“.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass uns in „What Is Islam?“ trotz der häufigen Anerkennung, dass es dabei Ebenen und Dimensionen gibt, ein Begriff von „Widerspruch“ präsentiert wird, der rein willkürlich ist. Der Satz „Sie sehen, wir sind muslimische Weintrinker“ in seiner Einleitung wird ohne Begründung verkündet. Trinken sie Wein aus einem spezifischen Grund? Es scheint, als würden sie es einfach tun. Andere tun es einfach nicht. Und da beide Muslime sind, gibt es einen „Widerspruch“.

Sprache

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Diskursive Tradition?

In seinem Artikel „The Idea of an Anthropology of Islam“ (1986), der für viele, die sich mit dieser Konzeptualisierung befassen, ein Prüfstein ist, sagt Talal Asad: „Der Islam ist weder eine besondere soziale Struktur noch eine heterogene Ansammlung von Überzeugungen, Artefakten, Bräuchen und Moralvorstellungen. Er ist eine Tradition.“

Für ihn muss eine erfolgreiche Anthropologie die passenden Konzepte verwenden. Und für ihn ist das richtige den Islam betreffend die „diskursive Tradition“. Das stößt jedoch auf logische Probleme, wenn er versucht, „diskursiv“ und „Tradition“ zu definieren:

„Eine Tradition besteht im Wesentlichen aus Reden, die Praktizierende über die korrekte Form und den Zweck einer bestimmten Praxis unterweisen sollen. Die, gerade weil sie etabliert ist, eine Geschichte hat. Diese Diskurse beziehen sich konzeptionell auf eine Vergangenheit (als die Praxis eingeführt wurde und von der das Wissen über ihren Zweck und ihre ordnungsgemäße Durchführung weitergegeben wurde) und eine Zukunft (wie der Zweck dieser Praxis kurz- oder langfristig am besten gesichert werden kann oder warum sie geändert oder aufgegeben werden sollte), durch eine Gegenwart (wie sie mit anderen Praktiken, Institutionen und sozialen Bedingungen verbunden ist). Eine islamische Diskurstradition ist einfach eine Tradition des muslimischen Diskurses, die sich mit Vorstellungen von der islamischen Vergangenheit und Zukunft befasst, unter Bezugnahme auf eine bestimmte islamische Praxis in der Gegenwart.“

Wenn Islam eine diskursive Tradition ist und wenn eine solche „im Wesentlichen aus Diskursen besteht“, dann ist er eine „diskursive Reihe von Diskursen“. Der Zusatz „diskursiv“ fügt keine neuen Informationen hinzu. „Diskursive Tradition“ zu sagen, ist wie „unverheirateter Junggeselle“. Es ist redundant. Wenn er eine diskursive Tradition ist, gibt es dann nicht-diskursive? Wenn es solche gibt, dann ist seine Definition von „Tradition“ falsch oder unvollständig.

Es ist wichtig zu beachten, dass Talal Asad von „Diskursen“ im technischen Sinne spricht, wie er von Michel Foucault und seinen Epigonen etabliert wurde: „Diskurs“ bezieht sich so nicht auf alltägliche Kommunikation oder Debatten. Niemand, der die Begriffe „diskursiv“ bzw. „Diskurs“ im Umfeld von Foucault liest, sollte an die idiomatische Bedeutung dieser Wörter denken.

Dessen „Diskurs“ bezieht sich auf die Behauptung von Macht durch Sprache. Auf Kontrollmechanismen, die als rationale Praktiken getarnt sind oder in Form solcher erscheinen. Sie ist die Ursache, Vorstellungen die Wirkung. „Diskursiv“ meint nicht den Ideenaustausch, vielmehr die Art und Weise, wie Macht Ideen konstruiert – nicht nur dieses oder jenes Konzept, sondern auch das Subjekt, das als ihr Urheber angesehen wird.

Wenn Asad Muslime gegen den Vorwurf der Starrheit, Nachahmung, Wiederholung und Erstarrung verteidigt, scheint es unausweichlich, dass seine Argumentation darauf hinausläuft: „Die durch-Macht-konstruierten Ideen des Islam sind genauso dynamisch, vielfältig und ausgeklügelt wie die durch-Macht-konstruierten Ideen des Westens.“

Man könnte ihm in Bezug auf die Vergleichbarkeit der Beweglichkeit, Vielfalt und Feinheit der beiden Zivilisationen zustimmen. Aber das ist etwas anderes als die Frage, was Ideen und Argumente ausmacht. Und das ist keinerlei triviale Angelegenheit. Denn keine Version des Islam in einer seiner historischen Erscheinungsformen könnte die metaphysischen Annahmen über die menschliche Natur, das Wissen und die Moral akzeptieren, die in Foucaults Diskurs-Begriff eingebettet sind.

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Foto: Jean-Léon Gérôme | gemeinfrei

Was Muslime tun?

Asad und Ahmed lehnen die in akademischen Islamstudien verbreitete Idee ab, dass „der Islam das ist, was Muslime tun“. Sie scheinen die Inkohärenz zu erkennen (Hodgson äußert sich sowohl dafür und als auch dagegen, obwohl das meiste, was er sonst sagt, eine solche Vorstellung nicht stützen würde).

„Die Idee (von Michael Gilsenan), die er von Anthropologen übernimmt – dass der Islam einfach das ist, was Muslime überall sagen –, reicht nicht aus. Schon allein deshalb nicht, weil es überall Muslime gibt, die sagen, dass das, was andere für Islam halten, in Wirklichkeit gar keiner ist. Dieses Paradoxon kann nicht einfach dadurch gelöst werden, dass man sagt, dass die Behauptung, was die Sache ist, vom Anthropologen nur dort akzeptiert wird, wo sie sich auf die eigenen Überzeugungen und Praktiken des Informanten bezieht. Denn es ist im Allgemeinen unmöglich, Überzeugungen und Praktiken in Bezug auf ein isoliertes Subjekt zu definieren.“

Beide retten die wesentliche Wirkung dieses Denkfehlers, indem sie Rahmenbedingungen schaffen, die ihn überhaupt nicht zu einem Irrtum machen. Ihre Konzepte bewirken eine Änderung der Spielregeln. So bleibt der Trugschluss „Islam ist, was Muslime tun“ – dass Muslime sich wissentlich in dem widersprechen, was als normativ islamisch gilt – kein Hindernis mehr, das es zu überwinden gilt.

Ahmed erreicht diese Regeländerung, indem er seinen umfassenden Sinn für „Widersprüche“ in das eigentliche Wesen des Islam einfließen lässt. Asad ändert ebenfalls die Regeln und rettet „Islam ist, was Muslime tun“. Er sieht alle Punkte von Übereinstimmung und Uneinigkeit als Funktionen von Hierarchien betrachtet. Wenn Orthodoxie als diese Machtverhältnisse definiert wird, argumentiert er, dann sind die scheinbaren Meinungsverschiedenheiten Ausdrücke und Erzählungen, die die Bedürfnisse von Macht und Widerstand erfüllen.

Foto: Anna Jahn, Unsplash

Wer hat das Wort? Und warum?

Trotz ihrer oft beeindruckenden Gelehrsamkeit und Empathie scheitern westliche Akademiker, die versuchen, den Islam zu „konzeptualisieren“, nicht in der Regel aus sachlichen Gründen (obwohl dies vorkommt). Sondern vor allem aus logischen und sogar metaphysischen Anlässen. Sie übersehen etwas Wesentliches: Der einzige analytisch haltbare Ausgangspunkt (bzw. zumindest die notwendige Voraussetzung) für die „Konzeptualisierung des Islam“ besteht darin, die Gruppe von Muslimen zu identifizieren, die man als Standard ansieht – entweder global oder lokal – und ihre Praxis und ihr Erbe zu theoretisieren.

Hierbei handelt es sich nicht um eine Frage von „innen“ und „außen“, sondern darum, das Wesen der Realitäten zu verstehen, die sprichwörtlich als Religionen, Zivilisationen, Kulturen oder Traditionen bezeichnet werden. Solche metaphysischen Institutionen können ihrer Natur nach nur dann vollständig theoretisiert werden, wenn die maßgebliche Gemeinschaft identifiziert wird. Und, wie ihre Mitglieder ein Vermächtnis durch ihre gelebte Praxis weitergeben – ähnlich wie der korrekte Gebrauch einer lebenden Sprache letztlich von ihrem normativen Sprechern und nicht von einer externen Autorität abhängt.

Die besprochenen Ansätze haben gemein, dass sie das Unvermeidbare in unterschiedlichem Maße vermeiden: die Abhängigkeit von einer Standardgemeinschaft, um den Islam zu konzeptualisieren. Diese Umgehung geht mit der Annahme einher, dass Muslime nicht in der Lage seien, sich selbst angemessen zu verstehen. Und dass dies von Außenstehenden für sie getan werden müsste.

Diese Situation ähnelt der eines englischen Muttersprachlers, der sich ein Bild von der deutschen Sprache macht und sich anmaßt, über ein richtiges und falsches zu urteilen. Nicht, indem man sich auf eine deutschsprachige Autorität stützt, sondern dadurch, dass man eine „Theorie“ aufstellt. Es ist nicht nur logisch unmöglich, etwas, das man „Islam“ nennt, zu theoretisieren, ohne sich auf das zu beziehen, was man als Standardmuslim betrachtet. Es ist höchst fragwürdig anzunehmen, dass man nach 1.400 Jahren daherkommen und es erfolgreich „konzeptualisieren“ kann, wo alle anderen – insbesondere die Muslime selbst – gescheitert seien. Englischsprachige neigen nicht dazu, über Generationen hinweg Debatten darüber zu führen, wie man Deutsch konzeptualisiert. Denn sie gehen davon aus (und warum sollten sie nicht?), dass die Deutschen ihre Sprache gut konzeptualisiert haben.

Dass man glaubt, Islam müsse überhaupt in ein Konzept gefasst werden, und zwar für die damit verbundenen Zwecke, wirft daher ernsthafte intellektuelle und moralische Fragen auf.