Mehr Asylsucher kommen denn je aus Kadyrows Reich

Die größte Gruppe der Asylbewerber kam 2013 nicht aus Krisenstaaten wie Syrien oder Afghanistan, sondern aus Russland. Genauer: aus Tschetschenien. Von dort strömten Menschen in Tausenden nach Deutschland – fort von Gewalt und Unterdrückung in ihrer Heimat.

Berlin/Moskau (dpa). Es klang verheißungsvoll: ein sicheres Leben in Deutschland, Freiheit, dazu Geld und ein Grundstück. Bei vielen Tschetschenen sprach sich in den vergangenen Monaten das Gerücht herum, Deutschland nehme Menschen aus der russischen Teilrepublik im Kaukasus wohlwollend und besonders großzügig in Empfang. Zu Tausenden folgten Tschetschenen den rosigen Versprechungen.

Mehr als 14 000 russische Asylbewerber kamen 2013 nach Deutschland – mehr Schutzsuchende als aus jedem anderen Staat. Nach Schätzung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, das die Asylanträge bearbeitet, stammten 90 Prozent davon aus Tschetschenien. Eine Statistik über den genauen Anteil gibt es nicht. In den Pässen findet sich dazu kein Eintrag, da Tschetschenien zu Russland gehört.

Russland als Herkunftsland Nummer eins in der Asylstatistik – das gab es noch nie. Mehr als 14 000 Anträge – auch das ist Rekord. 2012 waren es noch rund 3200 gewesen. Auch in den Vorjahren hatte die Zahl meist zwischen 1000 und 3000 gelegen, manchmal auch nur bei ein paar Hundert. 2013 waren das auf einmal Monatswerte. Bis zum Sommer kamen besonders viele Menschen aus Russland, genauer aus Tschetschenien: mehr als 1000, zum Teil auch mehr als 2000 pro Monat.

Anzeige:

Ganze Busse hätten sich auf den Weg nach Deutschland gemacht, sagt der Vorsitzende der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft, Ekkehard Maaß. Wegen des Gerüchts, Deutschland gebe Neuankömmlingen ein sattes Begrüßungsgeld und Land. „Das wurde gezielt verbreitet“, meint er.

Auch die Moskauer Bürgerrechtlerin Swetlana Gannuschkina berichtete bereits im Sommer in russischen Medien, in Tschetschenien sei zeitweilig das Gerücht gestreut worden, Deutschland wolle etwa 40.000 Menschen aus der Kaukasusrepublik aufnehmen. Das sei Unsinn, klärte sie in dem Internetportal „Kawkaski Usel“ (Kaukasischer Knoten) auf. Auch Maaß bemühte sich in der tschetschenischen Community, die Legende zu entzaubern. Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl können sich den sprunghaften Anstieg der Asylanträge von Tschetschenen ebenfalls nur durch dieses Märchen erklären.

Woher das Gerücht stammt, weiß niemand so genau. Viele Tschetschenen saßen wohl Gaunern und Schleppern auf. Für ein besseres Leben im Westen verkauften sie ihre Wohnungen in Tschetschenien und gaben ihr letztes Geld aus.

Das Konfliktgebiet in der bergigen Vielvölkerregion Nordkaukasus wird immer wieder von Anschlägen islamistischer Terroristen erschüttert, die ein von Russland unabhängiges Kaukasusemirat anstreben. Die in zwei Kriegen fast völlig zerstörte tschetschenische Hauptstadt Grosny ist heute dank Milliardenhilfen aus Moskau wieder aufgebaut.

Eine prunkvolle neue Moschee symbolisiert das Selbstbewusstsein der islamisch geprägten Teilrepublik. Aber wer mit den Menschen hier ins Gespräch kommt, spürt rasch ihre Angst, offen darüber zu sprechen, wie sie leben. Bisweilen aber werden Ausländer dann doch sogar auf der Straße darauf angesprochen, wie denn am besten in Deutschland Fuß zu fassen sei. Besonders junge Leute sehen in der Heimat keine Perspektiven, es gibt nicht genug Arbeitsplätze. Wer kann, setzt sich ab nach Moskau – oder eben in den Westen.

Republikchef Ramsan Kadyrow steht im Ruf, ein Regime der Schreckensherrschaft zu führen. Mord, Folter und Entführungen wirft ihm etwa die Menschenrechtsorganisation Memorial vor. Auch die Bundesregierung hält die Menschenrechtslage in Tschetschenien für „besorgniserregend“. Kadyrow steht nach Meinung von Beobachtern für eine Radikalisierung des Islam mit strengen Regeln, wie sich Frauen zu verhüllen haben. Es gibt Berichte über brutale Übergriffe auf Passanten, die freizügig gekleidet auf der Straße unterwegs waren.

Der deutsche Verfassungsschutz beäugte den Zustrom von Tschetschenen aufmerksam. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen warnte in den vergangenen Monaten mehrfach vor einer Radikalisierung von Tschetschenen in Deutschland. Auch an gewalttätigen Vorfällen in deutschen Asylbewerberheimen seien Menschen von dort beteiligt gewesen, mahnte er. Menschenrechtler warnen derweil davor, Tschetschenen pauschal in die Nähe von Extremismus zu rücken.

Inzwischen hat der Andrang wieder nachgelassen. Im Herbst ging die Zahl der Asylanträge von Tschetschenen auf ein paar Hundert pro Monat zurück. Der Ansturm sei vorerst vorbei, sagt Ekkehard Maaß. Es habe sich wohl herumgesprochen, dass an den Gerüchten nichts dran sei.

Die Situation in ihrer Heimat hat sich für die Menschen aber nicht geändert. „Die Angst, die in Tschetschenien herrscht, ist absolut beklemmend. Sie beherrscht den Menschen so, dass sie Teil seiner Persönlichkeit wird“, sagt Gannuschkina. Menschenrechtler sehen mit Sorge, dass der Führung in Moskau die Kontrolle über den tschetschenischen Herrscher Kadyrow entglitten ist.