
Welche Folgen haben u.a. soziale Medien für die Qualität der Bildung von muslimischen Kindern und Jugendlichen? Ein Essay über die Herausforderungen des Alltags.
(iz). Es ist spätabends in einem Hamburger Stadtteil. Wie in vielen Großstädten sitzen Jugendliche dicht gedrängt in stickigen Shisha-Cafés. Auf den Tischen stehen Energy Drinks, in den Händen Shisha-Schläuche, aus den Fernsehern werden vollaufgedrehte Musikvideos ausgestrahlt, die jegliche Unterhaltung unmöglich machen. Doch selbst wenn es leiser wäre: Es gäbe ohnehin wenig Gesprächsbedarf. Alle starren auf ihre Smartphones, die mittlerweile smarter sind, als die Jugend selbst. Von Abdelsamit Demir
Doch ich will weniger über die Cafés und das Rauchen an sich berichten als über die Jugend. Ich will darüber grübeln, weshalb soziale und religiöse Jugendzentren mit verschiedensten Beratungs- und Veranstaltungsangeboten inklusive professioneller Begleitung an Zugang abnehmen, während o.g. Locations jugendgewinnend sind.
Es gibt viele Ursachen für die geistige sowie soziale Abwesenheit, doch eines ist wohl sicher das Nichtvorhandensein von spirituellen und ethischen Vorbildern. Dazu kommt ein Kaleidoskop an weltlichen Entertainment-Konzepten.
Einen wichtigen Aspekt bilden dabei die sozialen Netzwerke, in denen jeder ein scheinbar hervorragendes Leben präsentiert. In jeder Ecke werden Posts und Snaps gemacht und auf verschiedenste Art posiert, immer darauf fokussiert, andere zu übertrumpfen, um besonders dazustehen und mehr Klicks und Likes zu erhalten. Ungesund und asozial ist der neue Hype.
Orte beispielsweise werden nicht nur ausgesucht, weil sie qualitativ gut, sondern eben angesagt sind. Seit Gründung und Verbreitung dieser sozialen Netzwerke wurde ebenso eine künstliche Parallelwelt geschaffen, in der jegliche moralische Normen und Regeln des freundlichen und friedvollen Miteinanders keine Rolle mehr spielen und diskriminierende, beleidigende Hasskommentare an der Tagesordnung stehen.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte man Beispielsweise Aussichten und Momente genossen. Heutzutage werden sie nur noch auf sozialen Medien festgehalten. Ohne Geschmack, Feinfühligkeit und Vision gleitet die Jugend aus den Fugen. Bücher schmücken nur noch die Regale und nicht mehr das menschliche Hirn.
Nicht ein grammatikalisch korrekter Satz ist zu hören, ganz abgesehen vom Schreibstil und den Emojis auf WhatsApp. Dinge bestellt man nicht mehr, weil sie gut schmecken, sondern abstrakt präsentiert werden. Neologismen und kulturelle Begriffe werden entwickelt, aufgeschnappt und dem Wortschatz hinzugefügt, ohne zu wissen, in welchen Kontexten sie eigentlich verwendet werden und wofür sie stehen. Abstrakte und dekadente Lebensweisen und Gewohnheiten werden als Lifestyles verkauft.
Doch kommen wir zum Kernproblem: Wir verzeichnen einen enormen Verlust an motivierten, moralischen, gebildeten und kosmopolitischen Vorbildern. Persönlichkeiten, die Jugendlichen Orientierung geben – durch Vorleben, nicht nur durch Worte.
Diese Lücke wird zunehmend von digitalen „Idolen“ gefüllt, die oft fragwürdige Botschaften vermitteln. In einem solchen Vakuum übernehmen Algorithmen, Likes und ominöse Influencer die Kontrolle, doch im echten Leben benötigen Junge Menschen reale Bezugspersonen, an denen sie sich orientieren können.
In der Sichtung der Plattformen sind verschiedenste, heterogene Akteure zu erkennen, die islamisches Content präsentieren. Und das Geschäft boomt. Sie agieren oft autodidaktisch, nutzen ihre medialen Kompetenz und durch ihre Sprachwelt wie z.B. einfaches deutsches Sprachniveau, Jugendjargon und wiederkehrende Floskeln sind sie für das junge Publikum nahbar und für den Algorithmus relevant.
Sie sind aus dem „islamistischen“ Milieu heraus entstanden, die frühzeitig das riesige Potenzial dieser Plattformen erkannt haben, weshalb ähnliche bis identische Inhalte bis heute erhalten geblieben sind.
Dazu gehören die genannte vereinfachte Sprache für die leichte Konsumierbarkeit, Schaffung von einer „Wir und die Anderen“-Rhetorik und Feindbilder sowie Emotionalisierung. Hatte man damals noch auf Youtube stundenlange Vorträge angeschaut, sind es heute nur noch Sekunden auf Tiktok und Instagram, in denen Entertainment, Trash sowie „Koran und Sunna“ aufeinandertreffen.
Klassische Jugendhäuser und Gemeinden wirken auf viele Jugendliche daher oft nicht mehr ansprechend. Was wir daher dringend brauchen, ist eine neue Generation von jungen, dynamischen, gut ausgebildeten und weltoffenen Vorbildern. Junge Menschen, die sichtbar attraktive und zeitgemäße Angebote anbieten und Verantwortung übernehmen.
Junge Imame, die digitale Räume mitgestalten, aber auch präsent sind in der Gemeinde. Junge Mediatoren, die die Jugendlichen mit all ihren Problemen, Fragen und Sehnsüchten ernst nehmen und ihnen neue Wege aufzeigen. Persönlichkeiten, die nicht nur über Werte sprechen, sondern sie leben – sichtbar in beiden Welten und so in der Lage sind, Brücken zu schlagen zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen Spiritualität und Alltag, zwischen digitaler Präsenz und realen Begegnungen.
Denn die muslimische Jugend von heute lebt im Spannungsfeld zwischen Herkunft und Heimat, zwischen religiösem Anspruch und gesellschaftlicher Realität. Sie suchen krampfhaft nach Orientierung, nach Identität. Weil sie genau darin von Familie, Moschee und Gesellschaft allein gelassen werden, fliehen sie in die virtuelle Welt, in denen ihnen schnelle, einfache Antworten und klare Codes für das Leben erhalten.
Daher ist zu sagen, dass sie junge Vorbilder benötigt, die sie begleiten und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Die muslimische Jugend ist nicht verloren. Sie wartet sehr dringend auf Lotsen. Diese sollen keine perfekten Menschen sein. Es sollen Menschen sein mit Haltung, Herz, Kreativität und Substanz.