Nasruddin Winter fühlt sich beim Anblick von „American Sniper“ an ein sehr reales Drama erinnert

(iz). Es ist eine spontane Idee. Wir wollen den letzten freien Tag – das Kind ist bei den Großeltern – im Kino verbringen. Die Vorstellung hat laut der Homepage schon angefangen. Aber wir haben Glück, die Werbung ist gerade vorbei.

In der ersten Szene liegt der Hauptdarsteller auf einem Dach, das Scharfschützengewehr im Anschlag. Er zielt auf ein Kind, das mit einer russischen Granate auf den Konvoi einiger Marines zuläuft. Einige Szenen später der Schuss, ein bisschen Blut, das Kind liegt am Boden. Es ist eine brutale und gleichzeitig gefühlskalte Szene, die die Dimensionen des Krieges in dem Film „American Sniper.“ nur allzu real darstellt.

In einer anderen Szene läuft ein großer dünner Mann mit dem Rücken zum Schützen der Straße entlang, ein Gewehr im Anschlag. Als er fällt, verliere ich die Distanz zum Film, und sehe nicht mehr den Schauspieler, der dort fällt. Es ist Tarik, der vor meinen Augen stirbt. Der junge Bielefelder, der Deutschland verließ, um in den Krieg zu ziehen, für eine Gruppe, die sich Islamischer Staat nennt.

Lächeln für die Kamera
Im August 2014 schafft Tarik es in das Online-Magazin des „Spiegel“. Selbst sie, die nicht gerade zimperlich mit Muslimen ins Feld gehen, schreiben vorsichtig und machen aus dem 20-jährigen keine Symbolfigur für die angebliche Brutalität des Islam. Auf dem verlinkten Video über dem Artikel schaut er strahlend in die Richtung seiner Gewehrmündung. [http://www.spiegel.de/politik/deutschland/dschihadist-aus-bielefeld-tariks-weg-nach-syrien-a-985182.html]

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Ich selber lerne ihn anders kennen. Ein netter und lebensfroher junger Mann. Wir betreuen zusammen Kinder in den Ferien, sie spielen mit ihm, hängen sich an seine Oberarmmuskeln und sind verrückt nach ihm. Er ist ihr Star, vielleicht auch, weil er im Kopf selber immer ein wenig Kind geblieben ist. Er denkt nicht viel nach über Theologie, Medien oder Koranexegese. Ein simpler Mensch, der in seiner Art eine der liebenswürdigsten Personen ist, die ich jemals kennen lernen durfte.

Doch dann verliere ich ihn langsam aus den Augen. Die Stadt verlassend für den Beruf, bin ich selten in der alten Moschee. Das letzte Mal sehe ich ihn bei einem Festgebet. Er hat sich verändert, trägt eine Kufiya auf dem Kopf, kleidet sich in lange arabische Gewänder und hat sich einen kleinen roten Bart stehen stehen lassen. Ich freue mich, ihn zu sehen, doch er wirkt abwesend, irgendwie nicht da. Was sich damals in seinem Kopf abspielte, kann ich nur vermuten. Das nächste Mal höre ich nur noch davon, wie er kämpft. Erst in Ägypten, dann in der Levante.

Im Fernsehen und in den Zeitungen folgen Bericht auf Bericht über Islam, Terrorismus und ISIS. Wer auch nur einen Hauch Ahnung von Religion hat und schreiben kann, bedient den Markt. Aber was macht dieser Krieg mit uns, den Hinterbliebenen, denjenigen, die wissen, dass ihre Freunde oder vielleicht sogar Verwandte mit ihrem Leben einstehen, für den Wahnsinn von Al-Baghdadi?

Haben wir etwas falsch gemacht?
Da wäre zuerst einmal die Angst, überhaupt zu reden. Nicht vor der lokalen Presse, die der Auflage wegen gerne alles verreißt; und Islam und Gewalt in eine Form gießt, die dem Leser gefällt. Es geht um die Angst vor ihnen, die dort sind. Dass der Arm dieser Organisationen weit reicht, hat nicht erst der Angriff auf „Charlie Hebdo“ gezeigt. Aber was soll man tun, wenn einem das Herz blutet und der Angst vor dem Tod des früheren Freundes wie ein dunkler Schatten an einem haftet?

Ist man alleine, machen sich die Trauer und die Wut Raum in der Brust und im Kopf. Wut auf die anderen, die ihn dorthin trieben und diejenigen, die es für ihre Zwecke instrumentalisieren. Aber vor allem die Wut auf sich selbst, und die Frage: „Hätte ich etwas unternehmen können? Habe ich nicht genug zugehört, eventuell etwas übersehen?“ Schuldgefühle plagen einen und am liebsten würde man sie, die in Propagandavideos stets lächeln und stolz ihre Gewehre präsentieren, fesseln und zurückholen. Aber das geht nicht, leider.

Als ich mit meiner Frau aus dem Kinosaal komme, überkommen mich die Tränen. Sie zieht mich durch die Menge nach draußen. Will, dass ich in Ruhe weinen kann. Dort lehne ich mich an ihre Schulter und lasse alles raus. Ich schreie, während die Tränen aus meinen Augen schießen und breche dort am Straßenrand fast zusammen. Bis tief in die Nacht verfolgen mich die Bilder, sobald ich die Augen schließe. Erst Stunden später kann ich endlich einschlafen.

Ob Tarik irgendwann zurückkommen wird? Ich hoffe es. Aber um ehrlich zu sein, habe ich in meiner Trauer den Glauben daran verloren.