(iz). Am Tag nach dem Ableben des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt, am 11.11.2015, habe ich mich in der ZEIT-Redaktion im Namen der Deutschen Muslimliga in das dort ausgelegte Kondolenzbuch eingetragen. Ich habe geschrieben: „Helmut Schmidt hat mit seiner Friedens- und Entspannungspolitik Geschichte geschrieben. Sein Beitrag zur Entschärfung des West-Ost-Konfliktes und zum Aufbau eines Vertragssystems zur kollektiven Sicherheit für Europa bleibt ein Vorbild für alle Versuche zur Lösung der aktuellen Krisen und Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Obwohl er selbst nicht fromm war, hat er sich stets und pragmatisch für die Gleichberechtigung aller Religionen und für die Verständigung zwischen Juden, Christen und Muslimen eingesetzt. Gott sei seiner Seele gnädig!“
Persönlich bin ich Helmut Schmidt einige Male begegnet. Das erste Mal an einem stürmischen und regennassen Abend im Oktober 1962 während der Spiegel-Affäre. Am Vortag war Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein zusammen mit seinen Kollegen Ahlers und Jakobi wegen angeblichen Landesverrats verhaftet worden.
Der Sozialistische Studentenbund (SDS) hatte zu einer Protestkundgebung vor dem Hauptgebäude der Universität aufgerufen. Wir waren ein kleines verzagtes Häuflein, aber plötzlich erschien Helmut Schmidt, damals sturmfluterprobter Innensenator, auf der Bühne, nahm eine Flüstertüte zur Hand und hielt eine kraftvolle Rede. Angefeuert von ihm, marschierten wir unter Umgehung der Bannmeile von der Universität bis vor das Tor des Untersuchungsgefängnisses am Holstenglacis und riefen laut, zusammen mit unserem Volkstribunen, „Freiheit für Augstein“. Wir waren nicht eben viele, und zum Abschied drückte Helmut Schmidt jedem einzelnen von uns die Hand und klopfte uns auf die Schulter. Zehn Jahre später war „Schmidt-Schnauze“ Bundesverteidigungsminister in Bonn.
Ich war Anfang der Siebzigerjahre Bundestagskandidat der DKP, der Deutschen Kommunistischen Partei, im Wahlkreis Hamburg-Nord, und auf mehreren Wahlforen saß ich zusammen mit ihm auf dem Podium. Er hat mich nie geschont, er hat mich hart angepackt, aber im Gegensatz zu anderen Politikern hat er mich nie missachtet oder lächerlich gemacht, sondern mich als politischen Gegner ernst genommen und sich sachlich und mit hanseatischer Fairness mit meinen Argumenten auseinandergesetzt. Für große Heiterkeit sorgte er einmal während einer Kandidatenbefragung im Langenhorner Bürgerhaus fast vor seiner eigenen Haustür. Schmunzelnd meinte er: „Sie sind sicher nicht Ulbrichts Lautsprecher, Sie sind eher sein Leisetreter!“
Allergrößten Respekt vor dem ach-so-kalten Krieger Schmidt bekam ich im Mai 1978. Damals besuchte der sowjetische Partei- und Staatschef Leonid Breschnew die Bundesrepublik. Als ortsansässiges Mitglied des DKP-Parteivorstandes hatte ich die zweifelhafte Ehre, den Staatsgast in der Gedenkstätte für den von den Nazis ermordeten Kommunistenführer Ernst Thälmann in Eppendorf zu begrüßen. Ich war von seinem bloßen Anblick entsetzt. Breschnew war so gebrechlich, dass er von zwei Männern in den Ausstellungsraum getragen werden musste. Seine Hand zitterte so sehr, dass er nicht in der Lage war, ohne die Federführung seines Leibwächters seine Unterschrift unter den vorgefertigten Eintrag ins Gästebuch zu setzen. Vor seinem Besuch in der Gedenkstelle hatte der greise Staatsmann mit dem Bundeskanzler politische Gespräche geführt und danach sogar nicht in einem Hospiz, sondern im Hause von Loki und Helmut Schmidt übernachtet. Ich fragte den Genossen Valentin Falin, den sowjetischen Botschafter in Bonn, der Breschnew begleitete, wie man sich eine solche Herberge vorstellen könnte. Falin, den ich so gut kannte, dass ich mit ihm auch persönlich reden konnte, antwortete mit einem überschwänglichen Lob auf die Umsicht und Gastfreundschaft des Ehepaares „Schmied“ – gesprochen mit einem langen „i“: „Die beiden kümmern sich fast seelsorgerlich um ihren kranken Gast. Sie sind so einfühlsam, so umsichtig und so rücksichtsvoll, dass sie auch eine solche heikle Aufgabe meistern können.“ „Wie schaffen die das?“, wollte ich wissen, und mein Gewährsmann meinte lakonisch: „Wie sagt man im Deutschen? Um des lieben Friedens Willen!“ Und leise, mit leicht sarkastischem Unterton, fügte er hinzu: „Für den Frieden tut der ‘Schmied’ fast alles, und wenn er neue Atomraketen aufstellt!“
Ein letztes Mal bin ich Helmut Schmidt persönlich Mitte der Neunzigerjahre begegnet. Es war ein kalter Winter, und die Alster war mehrere Wochen lang zugefroren. Inzwischen hatte ich mich zum Islam bekannt und schlidderte über das Alstereis, um auf diesem Weg schnell zum Freitagsgebet in die Blaue Moschee zu kommen. Dabei lief ich den Spaziergängern Siegfried Lenz und Helmut Schmidt fast in die Arme. Es war zu spät, um noch vor ihnen ein großen Bogen zu machen.
Ich begrüßte zuerst respektvoll meinen Schriftstellerkollegen und war dann unsicher, wie ich seinem Begleiter gegenübertreten sollte. Doch Siegfried Lenz stellte mich, ohne zu zögern, als seinen Kollegen und Freund vor. Der Altkanzler erkannte mich wieder und fragte mich schmunzelnd: „Waren Sie nicht früher Kommunist?“
„Das war ich.“ „Und was sind Sie jetzt?“, wollte er wissen. „Jetzt bin ich Muslim.“ Schmidt lachte übers ganze Gesicht. „Das sieht Ihnen ähnlich. Von Moskau nach Mekka ist gar nicht so weit, wie man denkt. Beten Sie ruhig für mich. Schaden kann es ja nicht.“
Schmidt hat nach eigenem Bekunden bis zu seinem, so vermutete er, endgültigen Ende nicht an Gott geglaubt, aber vielleicht hat Gott, der Weltenlenker, an Schmidt geglaubt und ihm nicht ohne Hintergedanken die Regierungsgeschäfte anvertraut. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie der Altkanzler aus allen Rauchwolken gefallen ist, als er unversehens dem Strippenzieher Aug in Aug gegenüber gestanden ist, den er vor lauter Zigarettenqualm während seines irdischen Regierungswaltens glatt übersehen hatte.
Um des lieben Friedens willen
Ausgabe 247